Kurzgeschichte ,,Fensterplatz"
Lena Berger klemmte ihre Tasche zwischen die Knie und rieb sich mit kreisenden Bewegungen über die Schläfen. Sie hasste es zu fliegen. Nicht wegen der Höhe oder der Turbulenzen – sondern wegen der Menschen. Zu viele davon auf zu engem Raum, die Luft ein Gemisch aus Aftershave, Desinfektionsmittel und unterdrückter Panik. Ihre Fingerknöchel wurden weiß, als die Maschine einen leichten Ruck machte. Boarding-Geräusche. Stimmengewirr. Überkopfgepäck, das in Fächer geschoben wurde.
Sie atmete bewusst durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Dreimal, wie ihr Therapeut es ihr beigebracht hatte. Der Fensterplatz war ihr kleiner Luxus. Etwas, das sie sich gönnte, obwohl es rational betrachtet Unsinn war – zusätzliche dreißig Euro für nichts anderes als eine Kunststoffscheibe mit Blick ins Nichts. Aber diese dünne Barriere zwischen ihr und dem Himmel gab ihr paradoxerweise das Gefühl von Kontrolle. Hier konnte niemand an ihr vorbeidrängen oder sie zum Aufstehen zwingen. Ihr kleines Territorium im fliegenden Sardinenbüchsendasein.
“Entschuldigung, ich glaube, das ist mein Platz.”
Ein Mann Ende dreißig stand im Gang und deutete auf den Mittelsitz neben ihr. Dunkle, etwas zu lange Haare, die ihm immer wieder in die Augen fielen. Eine Kamera um den Hals, die teuer aussah. Olivgrüne Cargohose mit zu vielen Taschen und ein dunkelblaues T-Shirt, das aussah, als wäre es schon oft gewaschen worden. Keine Krawatte, keine polierten Schuhe. Kein Geschäftsmann auf dem Weg zu einem wichtigen Meeting also.
“Natürlich.” Lena rückte näher ans Fenster, obwohl sie ohnehin nicht in seinem Weg saß.
“Danke.” Er verstaute einen abgenutzten Rucksack im Gepäckfach und ließ sich auf den Sitz neben ihr fallen. Keine Aktentasche, kein Rollkoffer. Ein Rucksack. Als würde er zum Wandern aufbrechen, nicht zu einem Flug nach Rom.
Sie spürte seinen Blick, während sie vorgab, in der Bordzeitung zu blättern. Die Seiten waren klamm und fühlten sich an, als hätten schon hundert Hände sie berührt. Hatten sie wahrscheinlich auch.
“Nach Rom?”, fragte er.
Lena drehte sich zu ihm, eine Augenbraue hochgezogen. “Wir sitzen in einem Flugzeug nach Rom.”
Seine Mundwinkel zuckten. “Touché. Ich meinte, was führt Sie nach Rom?”
Eigentlich wollte sie höflich lächeln und ihm zu verstehen geben, dass sie nicht an einem Gespräch interessiert war. Sie hatte ihre Kopfhörer griffbereit, ein untrügliches Signal in der Fliegendengesellschaft, dass man in Ruhe gelassen werden wollte. Doch etwas in seiner offenen Art ließ sie innehalten.
“Arbeit”, antwortete sie knapp, fügte dann aber hinzu: “Ich bin Kunstrestauratorin. Ein Projekt in der Galleria Nazionale.”
“Wirklich?” Seine Augen leuchteten auf, und zum ersten Mal bemerkte Lena, dass sie grün waren, mit kleinen braunen Sprenkeln. “Das klingt nach einem faszinierenden Job. Was restaurieren Sie?”
Gegen ihren Willen erwachte ihr Interesse. Die meisten Menschen reagierten mit höflichem Nicken und wandten sich dann wieder ihren Handys zu, wenn sie von ihrem Beruf erzählte.
“Ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert. Ein Caravaggio-Schüler, nicht besonders bekannt, aber handwerklich brillant. Es hat Wasserschäden durch ein undichtes Dach erlitten.”
“Und Sie sind die Retterin in der Not.” Er streckte ihr die Hand entgegen. “Finn Neumann.”
Sie zögerte einen Moment, bevor sie seine Hand nahm. Sie war warm und trocken. “Lena Berger.”
“Und was machen Sie in Rom, Herr Neumann?”, fragte sie, überrascht von ihrer eigenen Neugier.
“Finn, bitte.” Er tippte auf die Kamera, die auf seiner Brust ruhte. “Ich bin Fotojournalist. Klimaproteste nächste Woche. Die üblichen Bilder – junge Menschen mit Schildern, wütende alte Männer in Anzügen, Polizisten, die unentschlossen dazwischenstehen.”
In seiner Stimme lag keine Bitterkeit, eher eine resignierte Vertrautheit mit dem Ritual. Lena nickte langsam. Sie konnte sich ihn vorstellen, wie er durch die Menge navigierte, den perfekten Winkel suchte, während um ihn herum Geschichte geschrieben wurde – oder zumindest der Versuch unternommen wurde.
Die Flugbegleiter begannen mit ihrem choreografierten Tanz durch den Gang, verteilten falsche Lächeln und Sicherheitshinweise, die niemand beachtete. Lena spürte, wie sich ihre Finger in die Armlehnen gruben, als die Triebwerke heulend zum Leben erwachten.
“Nervös?”, fragte Finn.
Sie schüttelte den Kopf. “Nicht wirklich. Es ist nur…” Sie verstummte, unsicher, warum sie sich diesem Fremden anvertrauen sollte.
“Das künstliche Licht? Die recycelte Luft? Die Tatsache, dass wir in einer druckbeaufschlagten Metallröhre zehntausend Meter über dem Boden schweben werden?”
Ein unwillkürliches Lächeln huschte über Lenas Gesicht. “Etwas in der Art.”
Das Flugzeug beschleunigte, drückte sie in den Sitz. Lena schloss die Augen, fühlte den Moment, als die Räder den Boden verließen. Dieses kurze Schweben zwischen Erde und Himmel. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah, dass Finn aus dem Fenster blickte, an ihr vorbei, mit einem Ausdruck kindlicher Faszination.
“Ich werde es nie satt”, sagte er leise, fast zu sich selbst. “Diesen Moment, wenn die Stadt unter dir immer kleiner wird, wie eine Miniaturwelt. Als hättest du plötzlich die Perspektive Gottes.”
Die Lichter von Berlin versanken unter ihnen in der hereinbrechenden Dämmerung, wie Glühwürmchen auf dunklem Samt.
“Ich hätte Sie nicht für einen romantischen Schwärmer gehalten”, bemerkte Lena.
Finn wandte sich ihr zu, ein schiefes Lächeln im Gesicht. “Und ich hätte Sie nicht für jemanden gehalten, der so schnell urteilt.”
Touché, dachte Lena. Eins zu eins.
Als der Getränkewagen vorbeirollte, bestellte Finn einen Rotwein und Lena überraschte sich selbst, indem sie es ihm gleichtat. Der Wein war mittelmäßig, zu warm und in einem Plastikbecher serviert – aber als sie einen Schluck nahm, breitete sich eine angenehme Wärme in ihrem Magen aus.
“Auf Rom”, sagte Finn und hob seinen Becher.
“Auf Rom”, erwiderte sie und ließ ihren Becher sachte gegen seinen tippen.
“Waren Sie schon oft dort?”, fragte er.
“Ein paarmal. Studium, Arbeit. Nie zum Vergnügen.” Lena betrachtete den rubinroten Wein im trüben Kabinenlicht. “Ich nehme an, Sie kennen die Stadt gut?”
Finn lehnte sich in seinem Sitz zurück. “Ich kenne die Demonstrationsrouten und die besten Positionen für Fotos vom Kolosseum bei Sonnenuntergang. Aber ich bezweifle, dass ich die Stadt wirklich kenne.”
“Was meinen Sie damit?”
Er zuckte mit den Schultern. “Ich bin immer nur auf der Durchreise. Drei Tage hier, eine Woche dort. Ich sehe Orte durch meine Kamera, aber ich lebe nicht wirklich in ihnen.” Er hielt inne, trank einen Schluck. “Tut mir leid, das klingt prätentiöser als beabsichtigt.”
“Nein, ich verstehe, was Sie meinen.” Lena dachte an ihre eigenen Reisen, immer mit einem Ziel, einem Zeitplan, einer Checkliste. “Ich glaube, ich mache dasselbe, nur ohne Kamera.”
“Wie lange werden Sie in Rom bleiben?”
“Zwei Monate, wenn alles nach Plan läuft.”
“Zwei Monate.” Finn pfiff leise durch die Zähne. “Das ist mehr als genug Zeit, um die Stadt wirklich kennenzulernen.”
Lena lachte leise. “Ich werde die meiste Zeit in einem fensterlosen Restaurierungslabor verbringen, umgeben von Chemikalien und fragmentierten Malschichten.”
“Klingt nach einem Traum.”
“Ist es auch”, sagte sie ernst. “Für mich jedenfalls.”
Er musterte sie mit einem nachdenklichen Blick. “Das glaube ich Ihnen sogar.”
Die Flugbegleiter rollten den Essensservice heran – nichtssagende Mahlzeiten in Plastikverpackungen. Lena wählte die vegetarische Option, Finn entschied sich für Hühnchen. Sie aßen schweigend, aber es war keine unangenehme Stille.
“Darf ich fragen”, begann Finn, während er mit seiner Plastikgabel kämpfte, “was Sie an Ihrer Arbeit so fasziniert? Ich meine, ich kann mir vorstellen, dass es befriedigend ist, etwas zu retten, aber es ist auch… akribisch, oder? Mühsame Kleinarbeit.”
Lena kaute nachdenklich. Normalerweise antwortete sie auf solche Fragen mit einer höflichen Standardfloskel. Aber etwas an der Art, wie er fragte – echtes Interesse, keine bloße Höflichkeit – ließ sie innehalten.
“Es gibt einen Moment”, sagte sie langsam, “wenn man eine übermalte Stelle freilegt und plötzlich die ursprünglichen Farbschichten zum Vorschein kommen. Als würde man durch die Zeit reisen und die Hand des Künstlers bei der Arbeit sehen. Diese Farben waren dreihundert Jahre lang verborgen, und ich bin die erste Person, die sie wiedersieht.” Sie hielt inne, fast verlegen über ihre Begeisterung. “Es ist, als würde man ein Gespräch über Jahrhunderte hinweg führen.”
Finn nickte langsam. “Das verstehe ich. Es ist wie bei einem perfekten Foto – dieser eine Moment, eingefroren in der Zeit.”
“Genau.” Sie lächelte, überrascht von dem Gefühl der Verbundenheit. “Wir bewahren beide Momente, nur auf unterschiedliche Weise.”
“Der Unterschied ist, dass Sie etwas bewahren, das es wert ist, bewahrt zu werden.” Er verzog selbstironisch den Mund. “Ich mache Bilder von Politikern, die Hände schütteln und in Kameras lächeln.”
“Aber auch von Protesten. Von Menschen, die für etwas einstehen.”
“Touché.” Er lächelte. “Sie sind gut darin, das Beste in den Dingen zu sehen.”
“In meinem Job muss ich das sein. Unter dem, was wie ruinierte Leinwand aussieht, das Meisterwerk erkennen.”
Etwas in Finns Blick veränderte sich, wurde nachdenklicher. Als würde er sie zum ersten Mal richtig sehen.
Das Licht im Kabineninneren flackerte plötzlich. Ein kurzer Spannungsabfall, nichts Ungewöhnliches. Doch Lena spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten. Finn bemerkte es.
“Nur ein kleiner Stromausfall”, sagte er ruhig. “Passiert ständig.”
“Ich weiß.” Sie rang sich ein Lächeln ab, peinlich berührt von ihrer offensichtlichen Nervosität.
“Haben Sie Bücher über Restaurierung dabei?” fragte er, offensichtlich bemüht, das Thema zu wechseln.
Lena griff nach ihrer Tasche unter dem Vordersitz und zog ein Buch heraus. “Fachbücher, ja. Aber auch das hier.” Sie zeigte ihm einen abgegriffenen Roman von Italo Calvino.
“‘Wenn ein Reisender in einer Winternacht'”, las Finn laut. “Passend für eine Reise.”
“Haben Sie es gelesen?”
“Vor Jahren. Eine Geschichte, die immer wieder neu beginnt, oder?”
Lena nickte. “Es geht um das Lesen selbst. Um Erwartungen und wie sie enttäuscht werden.”
“Und um Begegnungen, die nie stattfinden. Oder zumindest nicht so, wie man es erwartet.” Finn betrachtete den Buchumschlag. “Ich glaube, ich sollte es noch einmal lesen.”
Das Flugzeug geriet plötzlich in leichte Turbulenzen. Nichts Dramatisches – ein sanftes Ruckeln, wie ein Boot auf leicht bewegtem Wasser. Trotzdem spannte sich Lenas Körper an, ihre Hand umklammerte die Armlehne.
Finn tat so, als würde er es nicht bemerken. “Ich habe gehört, die Wettervorhersage für Rom ist gut. Perfektes Wetter für Restaurierungsarbeiten und Protestfotos.”
“Ich arbeite drinnen, das Wetter ist irrelevant”, antwortete Lena automatisch, dankbar für die Ablenkung.
“Aber Sie werden doch nicht zwei Monate lang nur arbeiten? Rom im Frühling ist zu schön, um es zu verpassen.”
“Ich habe einen Zeitplan. Das Gemälde muss bis zur Saisoneröffnung fertig sein.”
Finn schüttelte den Kopf. “Sie sollten sich zumindest einen Sonnenuntergang auf dem Gianicolo-Hügel gönnen. Bester Blick über die Stadt. Die Kuppel des Petersdoms fängt das Licht wie eine goldene Schale.”
Die Art, wie er es beschrieb – Lena konnte es förmlich sehen. Die warmen Farben der untergehenden Sonne auf jahrhundertealtem Stein, die Silhouette der Stadt gegen den Abendhimmel.
“Klingt, als hätten Sie ein gutes Auge für Licht”, bemerkte sie.
“Muss ich haben. Licht ist für Fotografen, was Pinselstriche für Ihre Maler sind.” Er hielt inne. “Wissen Sie was? Ich könnte Ihnen den Ort zeigen, wenn Sie möchten. Nach Ihrer Arbeit, vor meiner Abreise.”
Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft, unerwartet. Ein Angebot, das über die zufällige Begegnung im Flugzeug hinausging. Lena spürte ein seltsames Flattern im Magen, das nichts mit den Turbulenzen zu tun hatte.
“Das ist nett, aber–”, begann sie.
Das Flugzeug machte einen plötzlichen Satz nach unten. Diesmal heftiger als zuvor. Der Getränkewagen am anderen Ende des Ganges rollte ein Stück vorwärts, eine Flugbegleiterin griff hastig danach. Einige Passagiere keuchten erschrocken auf.
Die Anschnallzeichen leuchteten auf, begleitet von einem durchdringenden Signalton. Die Stimme des Kapitäns knisterte durch die Lautsprecher, bemüht ruhig, aber mit einer unterschwelligen Anspannung, die Lena sofort erkannte.
“Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän. Wir durchfliegen momentan ein unerwartetes Unwettergebiet und erleben einige Turbulenzen. Bitte kehren Sie zu Ihren Plätzen zurück und legen Sie Ihre Sicherheitsgurte an. Das Kabinenpersonal wird den Service vorübergehend einstellen.”
Lena fühlte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, als sie die Armlehnen umklammerte. Finn schnallte sich neben ihr an und warf ihr einen beruhigenden Blick zu.
“Nur ein bisschen raues Wetter”, sagte er leichthin. “Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.”
Das Flugzeug schüttelte sich erneut, diesmal so stark, dass Lenas unberührtes Wasserglas auf dem Klapptisch überschwappte. Ein paar Tropfen landeten auf ihrem Buch. Instinktiv griff sie danach, tupfte es mit einer Serviette ab.
“Schaden an einem Calvino”, sagte sie mit erzwungenem Lächeln. “Da komme ich beruflich ins Spiel.”
Finn lachte, ein warmer, beruhigender Klang inmitten der angespannten Kabinengeräusche. “Sehen Sie, selbst in zehntausend Metern Höhe können Sie nicht aufhören zu restaurieren.”
Die Lichter flackerten erneut, diesmal länger. Für einen Moment wurde die Kabine in Dunkelheit getaucht, bevor die Notbeleuchtung ansprang und alles in ein unwirkliches, gedämpftes Gelb tauchte.
Lena spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Nicht rational, sagte sie sich. Nur ein Stromausfall. Aber ihr Körper reagierte mit uralten Instinkten auf die Dunkelheit, auf das Gefühl des Fallens.
Eine weitere Durchsage, diesmal angespannter: “Kabinenpersonal, bitte nehmen Sie Ihre Positionen für den Sicherheitscheck ein.”
Lenas Blick fand Finns. In der gedämpften Notbeleuchtung wirkten seine Augen dunkler, aber sein Gesichtsausdruck blieb ruhig. Fast instinktiv bewegte sich seine Hand zu ihrer auf der Armlehne. Eine flüchtige Berührung, warm und fest.
“Atmen Sie”, sagte er leise. “Langsam ein und aus. Mit mir.”
Sie folgte seinem gleichmäßigen Atemrhythmus, überrascht, wie beruhigend die simple menschliche Verbindung wirkte – die Hand eines Fremden, der in diesem Moment kein Fremder mehr war.
Das Flugzeug sackte plötzlich ab, ein Gefühl wie in einem Fahrstuhl, der zu schnell nach unten fährt. Einige Passagiere schrien auf. Ein Gepäckstück fiel aus einem Überkopffach.
Lena schloss die Augen, konzentrierte sich auf Finns Hand, die jetzt die ihre richtig umfasste. Warm, fest, präsent. Ein Anker in der Turbulenz.
Dann die Stimme des Kapitäns, jetzt ohne jeden Versuch, die Anspannung zu verbergen:
“Meine Damen und Herren, wir haben einen partiellen Systemausfall und können unseren Flug nach Rom nicht fortsetzen. Wir werden eine Notlandung auf dem nächsten verfügbaren Flughafen durchführen. Bitte befolgen Sie alle Anweisungen des Kabinenpersonals. Ich wiederhole: Wir werden eine Notlandung durchführen. Bitte bereiten Sie sich darauf vor.”
Die Worte hallten durch die Kabine, gefolgt von erschrockener Stille und dann dem aufkommenden Gemurmel von Angst und Unglauben.
Lena öffnete die Augen und blickte zu Finn. In seinem Gesicht stand keine Panik, kein Entsetzen – nur ruhige Entschlossenheit und etwas, das wie Mitgefühl aussah.
“Es wird alles gut”, sagte er und drückte ihre Hand. “Ich bin bei Ihnen.”
In diesem Moment, zwischen Himmel und Erde, zwischen Fremdsein und Vertrautheit, zwischen Furcht und Hoffnung, glaubte Lena ihm.
Das Flugzeug neigte sich in einem steilen Winkel nach unten. Lenas Magen rebellierte, während sie Finns Hand fest umklammerte. Der Druck in der Kabine veränderte sich, ihre Ohren schienen zu implodieren. Um sie herum beteten manche, andere weinten leise. Eine Flugbegleiterin mit kreideweiß gewordenem Gesicht durchquerte wankend den Gang und kontrollierte die Anschnallgurte.
“Wir werden in Zürich notlanden”, rief sie mit bemüht ruhiger Stimme. “Bitte bleiben Sie angeschnallt und nehmen Sie die Sicherheitsposition ein, sobald der Kapitän das Signal gibt.”
Lena warf einen Blick aus dem Fenster. Unter ihnen waren Lichter zu erkennen, ein Flickenteppich aus Straßen und Gebäuden. Sie hatten dramatisch an Höhe verloren.
“Zürich”, murmelte Finn neben ihr. “Nicht schlecht. Ich habe schon immer Schweizer Schokolade geliebt.”
Sie brachte ein zittriges Lächeln zustande. “Versuchen Sie, mich abzulenken?”
“Funktioniert es?”
“Ein bisschen.”
Die Stimme des Kapitäns erklang erneut durch die Lautsprecher, diesmal mit der präzisen Diktion eines Mannes, der einen einstudierten Notfallplan befolgte: “Wir beginnen jetzt mit dem Landeanflug. Bitte beugen Sie sich nach vorne, umarmen Sie Ihre Knie und schützen Sie Ihren Kopf mit den Händen. Dies ist eine Vorsichtsmaßnahme.”
Lena folgte den Anweisungen mechanisch, spürte Finns Arm, der ihren eigenen streifte, als auch er sich vorbeugte. In dieser absurden Intimität – zwei Fremde, die Seite an Seite einer möglichen Katastrophe entgegenblickten – flüsterte er: “Ich komme aus Hamburg. Falls… falls Sie das wissen möchten.”
“Berlin”, erwiderte sie ebenso leise, ohne aufzublicken. “Prenzlauer Berg.”
“Natürlich”, ein leises Lachen in seiner Stimme. “Hätte ich mir denken können. Restauratorin, Calvino-Leserin.”
Das Flugzeug rumpelte und vibrierte nun stärker. Der Boden kam rasend schnell näher.
“Sie kennen mich nicht”, sagte Lena, seltsam aufgebracht angesichts seiner Annahme.
“Nein”, gab er zu. “Aber ich hätte Sie gerne kennengelernt.”
Das Futur II traf sie unerwartet hart. Als wäre dies bereits die Nacherzählung einer verpassten Gelegenheit. Eine Geschichte, die nie stattfinden würde.
“Köpfe unten halten!”, rief eine Flugbegleiterin. “Wir setzen auf!”
Der Aufprall kam mit brutaler Wucht. Lenas Kopf schlug trotz Sicherheitsposition gegen den Vordersitz. Die Landebahn empfing sie mit einem ohrenbetäubenden Kreischen von Metall auf Asphalt. Gepäckfächer sprangen auf, Sauerstoffmasken fielen von der Decke. Das Flugzeug hüpfte einmal, zweimal auf dem Beton, bevor es mit einem gewaltigen Ruck zum Stehen kam.
Einen Moment herrschte Totenstille. Dann brandete Tumult auf – erleichtertes Aufatmen, Schluchzen, hektische Bewegungen. Die Notausgänge wurden geöffnet, Rutschbahnen entfalteten sich zischend. Kabinenpersonal rief Anweisungen, während draußen bereits Sirenen zu hören waren.
“Sind Sie verletzt?”, fragte Finn, der sich aufrappelte und vorsichtig seinen Kopf berührte. Eine kleine Platzwunde an seiner Stirn blutete leicht.
Lena tastete ihren eigenen Körper ab. “Ich glaube nicht. Sie bluten.”
“Nur ein Kratzer.” Er lächelte schwach. “Kommen Sie, wir müssen raus hier.”
Das geordnete Aussteigen, von dem man in den Sicherheitshinweisen immer hörte, entpuppte sich als Illusion. Trotz der Bemühungen der Crew herrschte ein Gedränge im Gang. Die Menschen wollten nur noch eines: diesen Metallsarg verlassen.
Finn griff nach Lenas Hand und zog sie in den Gang, positionierte sich schützend vor ihr, während sie sich zum nächsten Ausgang vorarbeiteten. Seine Körperhaltung – leicht vorgebeugt, Schultern gespannt – erinnerte an einen Fotografen in einem Krisengebiet. Vielleicht war er das sogar.
Die Rutsche hinunter war ein kurzer, surrealer Moment des freien Falls, dann standen sie auf festem Boden. Die kalte Schweizer Nachtluft schlug ihnen entgegen. Um sie herum das Chaos einer Notlandung – Rettungsfahrzeuge mit blinkenden Lichtern, Sanitäter, die durch die Menge eilten, desorientierte Passagiere, die wie Schatten im Scheinwerferlicht umherirrten.
“Kommen Sie.” Finn legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie weg vom unmittelbaren Tumult, zu einem der wartenden Busse, die die Passagiere zum Terminal bringen sollten.
Im Bus sank Lena auf einen Sitz, plötzlich überwältigt von dem, was gerade geschehen war. Die Anspannung wich aus ihrem Körper und hinterließ nichts als zitternde Erschöpfung. Finn setzte sich neben sie, seine Präsenz ein stiller Trost.
“Wir haben überlebt”, sagte er schließlich.
“Ja.” Sie versuchte zu lächeln, aber ihre Lippen zitterten. “Nicht ganz die Ankunft in Rom, die ich erwartet hatte.”
“Die Geschichte unserer Begegnung wird jedenfalls dramatischer.”
“Unserer Begegnung”, wiederholte sie leise. Es klang nach etwas Bedeutsamerem als der Zufall zweier Sitznachbarn.
Im Terminal herrschte kontrolliertes Chaos. Airline-Mitarbeiter versuchten, die Situation zu bewältigen, verteilten Wasserflaschen und Informationsblätter. Ein improvisierter medizinischer Bereich war eingerichtet worden, wo Sanitäter leichte Verletzungen behandelten.
“Sie sollten sich das ansehen lassen”, sagte Lena und deutete auf Finns Stirnwunde.
“Später.” Er schüttelte den Kopf. “Erst müssen wir herausfinden, wie es weitergeht.”
Sie schlossen sich einer Gruppe von Passagieren an, die um einen gestresst wirkenden Airline-Vertreter standen.
“… werden über Nacht in Hotels untergebracht”, erklärte dieser gerade. “Morgen früh gibt es Informationen zu Ersatzflügen. Bitte haben Sie Verständnis, dass dies einige Zeit in Anspruch nehmen kann.”
Ein kollektives Stöhnen ging durch die Menge.
“Was ist mit unserem Gepäck?”, rief jemand.
“Sobald das Flugzeug freigegeben ist, wird das Gepäck geborgen und hierher gebracht. Voraussichtlich morgen früh.”
Lena dachte an ihren Koffer, an die sorgfältig eingepackten Werkzeuge, die speziellen Handschuhe, die sie für die Restaurierungsarbeiten benötigte. Nichts Unersetzliches, aber der Gedanke, ohne diese Dinge in Zürich festzusitzen, verstärkte ihr Gefühl der Verlorenheit.
“Eine Nacht in Zürich”, sagte Finn neben ihr. “Nun, es gibt schlechtere Orte für einen unfreiwilligen Zwischenstopp.”
Sie nickte abwesend, während sie ihr Handy aus der Tasche zog. “Ich muss das Museum informieren. Und ein Hotel finden.”
“Die Airline stellt Hotels bereit”, erinnerte er sie.
“Ja, aber…” Sie verstummte. Die Aussicht, in irgendeinem anonymen Flughafenhotel zu übernachten, umgeben von aufgebrachten Mitreisenden, erschien ihr plötzlich unerträglich.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Finn: “Ich kenne ein kleines Hotel in der Altstadt. Nichts Besonderes, aber ruhig. Weit weg von…” Er machte eine umfassende Geste zu dem Chaos um sie herum.
Lena zögerte. Die vernünftige Entscheidung wäre, das von der Airline angebotene Hotel zu akzeptieren. Einfach, praktisch, kostenlos. Andererseits…
“Wie weit ist es von hier?”, fragte sie schließlich.
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. “Eine kurze Zugfahrt. Fünfzehn Minuten, vielleicht zwanzig.”
Sie nickte langsam. “In Ordnung.”
Eine Stunde später saßen sie in einem Zug, der sie vom Flughafen in die Innenstadt brachte. Die Adrenalinwelle war abgeebbt und hinterließ eine seltsame, fast träumerische Ruhe. Durch die Fenster glitt die nächtliche Landschaft vorbei, gelegentlich unterbrochen von den Lichtern kleiner Stationen.
Lena betrachtete ihr Spiegelbild in der dunklen Scheibe. Zerzaustes Haar, blasses Gesicht. Sie sah aus, wie sie sich fühlte – durchgeschüttelt und aus der Bahn geworfen. Neben ihr saß Finn, die Kamera noch immer um den Hals, den Kopf leicht gegen die Fensterscheibe gelehnt. Die kleine Wunde an seiner Stirn hatte aufgehört zu bluten.
“Sie hätten das behandeln lassen sollen”, sagte sie.
Er öffnete die Augen und lächelte müde. “Es ist nichts. Morgen ist es vergessen.”
“Eine Narbe wird bleiben.”
“Eine weitere für die Sammlung.” Er zuckte mit den Schultern. “Jede hat eine Geschichte.”
“Und diese?”
“Die Geschichte, wie ich eine faszinierende Restauratorin in einem abstürzenden Flugzeug kennenlernte.”
Lena spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. “Übertreiben Sie nicht. Es war eine Notlandung, kein Absturz.”
“Details.” Er grinste. Dann wurde sein Gesicht ernst. “Hat sich eigentlich schon jemand bei Ihnen gemeldet? Familie, Freunde?”
Sie schüttelte den Kopf. “Ich habe eine Nachricht an meinen Vorgesetzten im Museum geschickt. Er wird verstehen, dass ich mich verspäte.” Sie zögerte. “Sonst… gibt es niemanden, der sofort informiert werden müsste.”
Finn nickte nur, ohne nachzuhaken, wofür sie dankbar war. “Bei mir auch nicht”, sagte er schließlich. “Der Vorteil des Einzelgänger-Daseins – weniger Leute, die sich Sorgen machen.”
“Ist das wirklich ein Vorteil?”, fragte sie leise.
Ihre Blicke trafen sich im Fensterglas, Spiegelbilder, die sich überlagerten. Für einen Moment schien es, als würde er etwas Tiefgründiges antworten. Dann zuckte er nur mit den Schultern.
“An Tagen wie heute? Vermutlich nicht.”
Der Zug verlangsamte sich und fuhr in den Hauptbahnhof ein. Sie stiegen aus und folgten dem Strom der wenigen nächtlichen Reisenden durch die fast leere Bahnhofshalle.
Draußen empfing sie die kühle Nachtluft. Zürich lag unter einem klaren Sternenhimmel, die Straßen feucht vom kürzlichen Regen. In der Ferne war der See zu erahnen, ein dunkler Spiegel, der das Licht der Stadt reflektierte.
“Es ist nicht weit”, sagte Finn und deutete eine schmale Gasse hinauf. “Nur ein paar Minuten zu Fuß.”
Sie gingen schweigend nebeneinander her, vorbei an geschlossenen Cafés und dunklen Schaufenstern. Die Stadt schlief bereits, nur gelegentlich begegnete ihnen ein einsamer Nachtschwärmer oder ein heimkehrender Barkeeper.
Das Hotel war genau wie Finn es beschrieben hatte – klein, unscheinbar, in einem schmalen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert versteckt. Die Rezeption war nur schwach beleuchtet, ein älterer Herr mit Lesebrille blickte von seinem Buch auf, als sie eintraten.
“Guten Abend”, grüßte Finn auf Deutsch. “Haben Sie noch zwei Einzelzimmer frei? Es gab einen Notfall am Flughafen.”
Der Mann betrachtete sie über den Rand seiner Brille hinweg – ihre zerknitterte Kleidung, Finns Stirnwunde, ihre erschöpften Gesichter. “Ah, die Notlandung. Es war im Radio.” Er tippte etwas in seinen Computer. “Ein Einzelzimmer habe ich noch. Und ein Doppelzimmer im obersten Stock.”
Finn warf Lena einen fragenden Blick zu.
“Ich nehme das Einzelzimmer”, sagte sie schnell.
Der Rezeptionist schüttelte bedauernd den Kopf. “Das Einzelzimmer ist leider reserviert für einen Stammgast, der später eintrifft. Ich kann es Ihnen nicht geben. Nur das Doppelzimmer ist verfügbar.”
Lena und Finn tauschten einen Blick.
“Wir könnten woanders suchen”, schlug er vor.
Sie wusste, was das bedeutete – wieder durch die nächtliche Stadt laufen, vielleicht mehrere Hotels abklappern, während die Müdigkeit immer schwerer auf ihren Schultern lastete. Die Vorstellung war unerträglich.
“Das Doppelzimmer ist in Ordnung”, hörte sie sich selbst sagen. “Wir nehmen es.”
Der Rezeptionist nickte und reichte ihnen einen altmodischen Schlüssel mit einem schweren Holzanhänger. “Zimmer 42, ganz oben. Der Aufzug ist leider außer Betrieb.”
Natürlich war er das. Lena unterdrückte ein hysterisches Kichern. Von allen absurden Wendungen dieses Tages war dies nur eine weitere.
Sie stiegen die knarrenden Holzstufen hinauf, vier Stockwerke, ihre Schritte gedämpft vom abgenutzten Läufer. Mit jedem Treppenabsatz wurde ihr Atem schwerer, nicht nur von der körperlichen Anstrengung, sondern auch von der zunehmenden Surrealität der Situation.
Vor zwei Stunden waren sie noch Fremde in einem abstürzenden Flugzeug gewesen. Jetzt standen sie vor einem gemeinsamen Hotelzimmer in einer fremden Stadt.
“Wir sind da”, sagte Finn schließlich und blieb vor einer Tür mit der Nummer 42 stehen. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
Das Zimmer war überraschend charmant – groß, mit hohen Decken und einem Erkerfenster, das einen Blick auf die nächtlichen Dächer der Altstadt bot. Ein großes Bett mit weißer Bettwäsche stand in der Mitte, flankiert von zwei altmodischen Nachttischchen. Ein kleiner Schreibtisch, ein Sessel am Fenster, ein Schrank aus dunklem Holz.
“Nicht schlecht”, murmelte Finn, während er eintrat und das Licht einschaltete.
Lena blieb zögernd im Türrahmen stehen, plötzlich unsicher. Die Intimität des Raumes – das eine Bett, die gedämpfte Beleuchtung – schien eine Grenze zu überschreiten, die sie nicht zu überschreiten bereit war.
Finn bemerkte ihr Zögern und sagte schnell: “Ich kann auf dem Boden schlafen. Oder im Sessel.”
“Nein, das ist Unsinn”, entgegnete sie und trat entschlossen ins Zimmer. “Das Bett ist groß genug für uns beide. Wir sind erwachsene Menschen.”
Sie stellte ihre Handtasche auf den Schreibtisch und ging zum Fenster. Die Stadt lag unter ihnen, ein Meer aus Lichtern und Schatten. In der Ferne glitzerte der See, dahinter die dunklen Umrisse der Berge.
“Schön”, sagte sie leise.
“Ja.” Finn war neben sie getreten, ohne dass sie es bemerkt hatte. “Ein unerwarteter Blickwinkel.”
Sie standen schweigend nebeneinander, betrachteten die nächtliche Stadt. Der Tag – mit seinem Schrecken, seiner Anspannung, seiner unverhofften Verbindung zwischen ihnen – schien eine eigene Schwerkraft zu besitzen, die sie in dieser seltsamen Zwischenwelt festhielt.
“Wir sollten schlafen”, sagte Lena schließlich. “Morgen müssen wir früh raus, wenn wir einen Ersatzflug bekommen wollen.”
Finn nickte. “Sie können zuerst ins Bad.”
Das Badezimmer war klein, aber makellos sauber. Lena betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, während sie sich mit kaltem Wasser die Müdigkeit aus den Augen zu waschen versuchte. Sie besaß keine Zahnbürste, keinen Pyjama, nicht einmal eine Haarbürste. Alles war in ihrem Koffer, irgendwo am Flughafen, in einem havarierten Flugzeug.
Als sie ins Zimmer zurückkehrte, stand Finn am Fenster, das Gesicht halb abgewandt. Er hatte seine Kamera abgelegt und sein Hemd aufgeknöpft, trug aber noch immer seine Jeans.
“Das Bad ist frei”, sagte sie, bemüht, nicht auf seinen entblößten Oberkörper zu schauen.
Er drehte sich um und lächelte dankbar. “Ich beeile mich.”
Während er im Bad war, setzte sich Lena auf die Bettkante. Die Erschöpfung überrollte sie in Wellen, aber ihr Geist weigerte sich, zur Ruhe zu kommen. Zu viele Eindrücke, zu viele Gefühle drängten sich in ihr Bewusstsein.
Als Finn zurückkam, hatte sie sich unter die Decke gekuschelt, möglichst weit am Rand des Bettes. Er löschte das Licht und legte sich auf die andere Seite, einen respektvollen Abstand zwischen ihnen lassend.
Im Dunkeln hörte sie sein gleichmäßiges Atmen, spürte die sanfte Bewegung der Matratze bei jeder seiner Bewegungen. Eine seltsame Intimität, die sie mit diesem Mann teilte, den sie vor wenigen Stunden nicht einmal gekannt hatte.
“Lena?”, flüsterte er nach einer Weile.
“Ja?”
“Glauben Sie an Schicksal?”
Die Frage hing zwischen ihnen in der Dunkelheit. Lena dachte nach, bevor sie antwortete.
“Ich bin Restauratorin”, sagte sie schließlich. “Ich glaube an das, was ich sehen und berühren kann. An Spuren, die die Zeit hinterlässt.”
“Und was ist das hier? Diese Begegnung?”
Sie drehte sich auf den Rücken, starrte an die dunkle Decke. “Ich weiß es nicht. Ein Zufall vielleicht. Wahrscheinlich nichts, was in einer Woche noch Bedeutung haben wird.”
Eine lange Pause folgte. Dann spürte sie, wie er sich ebenfalls auf den Rücken drehte.
“Vielleicht haben Sie recht”, sagte er leise. “Aber es fühlt sich nicht so an.”
Lena schloss die Augen, lauschte dem fernen Rauschen des Verkehrs, dem leisen Ticken einer Uhr irgendwo im Zimmer. Ihr Körper war erschöpft, aber ihr Geist raste noch immer.
“In meinem Job”, begann sie zögernd, “lernt man, dass manchmal die wichtigsten Dinge unter der Oberfläche verborgen sind. Unter Schichten aus Zeit und Veränderung.”
“Und man braucht die richtigen Werkzeuge, um sie freizulegen”, ergänzte Finn.
“Ja”, flüsterte sie. “Und Geduld.”
Ihr Gespräch verebbte, machte Platz für eine comfortable Stille. Lena spürte, wie die Müdigkeit sie übermannte, wie ihre Gedanken langsamer wurden, verschwommener.
Am Rande des Schlafes glaubte sie zu spüren, wie Finns Hand die ihre streifte – eine flüchtige, kaum wahrnehmbare Berührung. Zu müde, um zu reagieren, ließ sie es geschehen, nahm den Kontakt mit ins Reich der Träume.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus dem Schlaf. Desorientiert tastete Lena nach dem Gerät, während ihr Bewusstsein langsam zurückkehrte. Fremdes Zimmer. Morgenlicht. Und ein warmer Körper neben ihr.
Finn lag schlafend auf seiner Seite des Bettes, ein Arm über den Augen, um das eindringende Sonnenlicht abzuschirmen. Sein Gesicht wirkte im Schlaf jünger, verletzlicher.
Das Handy klingelte erneut. Lena nahm den Anruf entgegen, flüsterte ein leises “Hallo?”
“Frau Berger?” Die Stimme klang offiziell, geschäftsmäßig. “Hier ist Herr Weber von der Fluggesellschaft. Wir haben einen Ersatzflug für Sie nach Rom, der heute um 11 Uhr abhebt. Können Sie bis 9 Uhr am Flughafen sein?”
Lena warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. “Ja, das schaffe ich.”
“Ausgezeichnet. Ihr Gepäck wurde bereits umgebucht. Am Schalter 37 erhalten Sie Ihre Bordkarte.”
“Danke.” Sie legte auf und atmete tief durch. Rom. Das Museum. Das Gemälde. Die Realität holte sie ein.
Finn regte sich neben ihr, blinzelte gegen das Morgenlicht. “Guten Morgen”, murmelte er mit schlaftrunkener Stimme.
“Guten Morgen.” Sie lächelte unwillkürlich. “Das war die Airline. Sie haben einen Ersatzflug für mich. Um 11 Uhr.”
Er setzte sich auf, fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. “Für mich vermutlich auch.”
Sie nickte, plötzlich unsicher, was sie sagen sollte. Die seltsame Intimität der Nacht begann bereits zu verblassen, machte Platz für die Nüchternheit des Tages.
“Ich sollte mich fertig machen”, sagte sie und stand auf. “Wir haben nicht viel Zeit.”
Im Badezimmer starrte sie wieder in den Spiegel, versuchte, mit bloßen Händen etwas Ordnung in ihr Haar zu bringen. Ohne Zahnbürste, ohne frische Kleidung fühlte sie sich unvollständig, als würde ein Teil von ihr fehlen.
Als sie ins Zimmer zurückkehrte, stand Finn am Fenster, vollständig angekleidet, die Kamera bereits um den Hals. Die morgendliche Sonne vergoldete die Dächer der Stadt, ließ den See in der Ferne glitzern.
“Bereit?”, fragte er.
Sie nickte, griff nach ihrer Handtasche. “Bereit.”
Sie bezahlten an der Rezeption – Finn bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen, trotz ihrer Proteste – und traten hinaus in den klaren Schweizer Morgen. Die Straßen der Altstadt erwachten gerade zum Leben, Cafébesitzer stellten Tische auf die Bürgersteige, Lieferwagen belieferten Bäckereien und Restaurants.
Am Bahnhof kauften sie Tickets für den nächsten Zug zum Flughafen. Eine merkwürdige Melancholie hatte sich über sie gelegt, ein Gefühl des Abschieds, das keiner von beiden aussprechen wollte.
Sie standen am Bahnsteig, der kühle Morgenwind spielte mit Lenas Haar. Finn betrachtete sie mit einem nachdenklichen Blick.
“Rom”, sagte er schließlich. “Unser ursprüngliches Ziel.”
“Ja.” Sie lächelte schwach. “Fast hätte ich es vergessen.”
“Was werden Sie tun, wenn Sie dort ankommen?”
“Direkt zum Museum fahren. Das Gemälde wartet.”
Finn nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. “Und der Sonnenuntergang auf dem Gianicolo-Hügel?”
Die Erwähnung ihres unterbrochenen Gesprächs im Flugzeug – war es erst gestern gewesen? – traf sie unerwartet. Ein Angebot, das in der Luft hing, buchstäblich und metaphorisch.
“Ich…” Sie zögerte.
Der Zug fuhr ein, unterbrach den Moment mit seinem Zischen und Quietschen. Türen öffneten sich, Menschen strömten heraus.
“Wir sollten einsteigen”, sagte Finn und deutete auf einen Wagen mit freien Plätzen.
Im Zug saßen sie wieder nebeneinander, schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Die Landschaft zog vorbei, allmählich wechselnd von den historischen Gebäuden der Innenstadt zu den moderneren Strukturen am Stadtrand.
“Wann fliegen Sie zurück nach Deutschland?”, fragte Lena schließlich.
“Nach den Protesten. In etwa einer Woche.”
Sie nickte, unsicher, was sie mit dieser Information anfangen sollte. Eine Woche. Sieben Tage in derselben Stadt.
Am Flughafen herrschte das übliche Treiben. Sie fanden den Schalter, an dem sie ihre neuen Bordkarten erhalten sollten. Eine lange Schlange hatte sich bereits gebildet – andere Passagiere des gestrigen Flugs, vermutlich.
“Ich hole uns einen Kaffee”, bot Finn an. “Das wird dauern.”
Während er in Richtung eines Cafés verschwand, stellte sich Lena in die Schlange und schob ihre Handtasche von einer Schulter auf die andere. Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden schienen unwirklich, wie ein Traum, aus dem sie jeden Moment erwachen könnte.
Als Finn zurückkehrte, reichte er ihr einen Becher dampfenden Kaffee und einen Croissant in einer Papiertüte. “Frühstück”, sagte er mit einem Lächeln. “Nicht ganz italienisch, aber besser als nichts.”
“Danke.” Sie nahm einen Schluck Kaffee, spürte, wie das Koffein ihre müden Lebensgeister weckte.
Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. Lena spürte eine wachsende Anspannung, als würde sie auf etwas warten, das noch nicht geschehen war. Neben ihr schien auch Finn unruhig, spielte mit dem Riemen seiner Kamera, blickte immer wieder zu ihr hinüber, als wollte er etwas sagen, fand aber nicht die richtigen Worte.
Als sie schließlich an der Reihe waren, beugte sich Finn leicht zu ihr. “Sollen wir versuchen, nebeneinander zu sitzen? Im Flugzeug, meine ich.”
Die Frage hing zwischen ihnen, bedeutungsschwerer als sie sein sollte. Lena zögerte. Eine simple Angelegenheit der Sitzplatzwahl, und doch schien so viel mehr darin zu liegen.
“Ja”, sagte sie schließlich. “Das wäre schön.”
Sie traten gemeinsam an den Schalter. Der Mitarbeiter tippte ihre Namen in den Computer, runzelte die Stirn.
“Frau Berger, Sie sind auf dem Flug LH1734 nach Rom gebucht, Abflug 11:05 Uhr. Und Sie, Herr Neumann…” Er tippte weiter, sein Stirnrunzeln vertiefte sich. “Sie sind auf dem Flug LH472 nach Mailand gebucht, Abflug 10:30 Uhr.”
“Mailand?” Finn klang bestürzt. “Aber ich muss nach Rom.”
“Es tut mir leid, aber der Flug nach Rom ist bereits vollständig gebucht. Wir konnten nicht alle Passagiere des gestrigen Fluges unterbringen. Von Mailand aus gibt es eine Zugverbindung nach Rom, die Reisezeit beträgt etwa drei Stunden.”
Lena spürte, wie sich ein Knoten in ihrer Brust bildete. Eine absurde Enttäuschung, völlig unverhältnismäßig angesichts der Umstände.
“Kann ich stattdessen auch nach Mailand?”, fragte sie, ohne nachzudenken.
Der Mitarbeiter schüttelte den Kopf. “Der Flug nach Mailand ist ebenfalls ausgebucht. Außerdem wurde Ihr Gepäck bereits für den Rom-Flug registriert.”
“Ich verstehe.” Sie senkte den Blick, plötzlich befangen.
Sie erhielten ihre Bordkarten und traten vom Schalter zurück. Finn starrte auf sein Ticket, dann auf die Uhr. Es war bereits nach neun.
“Mein Flug geht in einer Stunde”, sagte er leise.
Lena nickte stumm. Eine Stunde. Und dann würden sich ihre Wege trennen, diese seltsame, intensive Begegnung würde enden, bevor sie richtig begonnen hatte.
“Ich sollte zum Gate gehen”, fuhr er fort. “Sicherheitskontrolle und so weiter.”
“Ja”, sagte sie mechanisch. “Natürlich.”
Sie standen voreinander, umgeben vom Gewimmel des Flughafens, wie eine Insel der Stille im Strom der Reisenden. Zwei Fremde, die für kurze Zeit etwas geteilt hatten, das keiner von ihnen benennen konnte.
“Also dann”, begann Finn, streckte zögernd seine Hand aus. “Es war… interessant, Sie kennenzulernen, Lena Berger.”
Sie ergriff seine Hand, spürte die Wärme seiner Haut. “Gleichfalls, Finn Neumann.”
Ihre Hände verweilten länger als nötig ineinander, bevor sie sich langsam lösten. Finn trat einen Schritt zurück, seine Augen nie von ihren weichend.
“Vielleicht…”, begann er, brach dann ab, schien seine Gedanken neu zu ordnen. “Rom ist nicht so groß. Vielleicht laufen wir uns über den Weg.”
“Vielleicht”, echote sie. Eine höfliche Fiktion, eine Trostpflaster für ein Ende, das keines sein sollte.
Er lächelte ein letztes Mal, hob kurz die Hand zum Abschied und drehte sich dann um, verschmolz mit der Menge in Richtung Sicherheitskontrolle.
Lena blieb stehen, unfähig, sich zu bewegen. Sie beobachtete seinen Rücken, bis er zwischen den anderen Reisenden verschwand. Etwas in ihr schrie, ihm nachzulaufen, die Dinge nicht so enden zu lassen. Aber was hätte sie sagen sollen? Was war da überhaupt zwischen ihnen?
Mit schwerem Herzen wandte sie sich ab und ging langsam in Richtung ihres eigenen Gates. Sie hatte noch Zeit bis zu ihrem Flug. Zeit zum Nachdenken, zum Grübeln, zum Bedauern.
An einem Zeitungsstand hielt sie inne, betrachtete geistesabwesend die Titelseiten. Und dort, auf dem Cover einer internationalen Zeitschrift, sah sie ein Foto, das sie innehalten ließ. Ein Fotograf inmitten einer Demonstration, die Kamera erhoben, während um ihn herum Chaos herrschte. Die Bildunterschrift lautete: “Pulitzer-Preisträger Finn Neumann dokumentiert Klimaproteste in Barcelona.”
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Pulitzer-Preisträger. Kein Wunder, dass seine Kamera so teuer ausgesehen hatte. Kein Wunder, dass er so ruhig geblieben war während der Notlandung, dass er wusste, wie man sich in Krisensituationen verhielt.
Sie kaufte die Zeitschrift, blätterte hastig zu dem Artikel. Eine kurze Biografie begleitete das Stück. Finn Neumann, 37, einer der renommiertesten Fotojournalisten Europas. Bekannt für seine Arbeiten in Konfliktgebieten. Letztes Jahr schwer verletzt bei Unruhen in Beirut.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Der Mann, mit dem sie die Nacht verbracht hatte – wenn auch nur schlafend, Seite an Seite – war kein gewöhnlicher Pressefotograf. Er war jemand, dessen Bilder Geschichte dokumentierten, dessen Arbeit in Museen hing.
Und sie hatte nicht einmal seine Telefonnummer.
Mit plötzlicher Entschlossenheit drehte sie um, rannte zurück in Richtung Sicherheitskontrolle. Vielleicht konnte sie ihn noch einholen, vielleicht…
Die Anzeigetafel über ihr fing ihren Blick. Flug LH472 nach Mailand: BOARDING.
Zu spät. Sie war zu spät.
Mit gesenkten Schultern ging sie zu ihrem eigenen Gate, setzte sich auf einen der leeren Stühle. Die Zeitschrift lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß, Finns Gesicht blickte ihr entgegen – ernst, fokussiert, die Kamera vor dem Auge. So hatte sie ihn nicht kennengelernt. Für sie war er der Mann gewesen, der die Welt durch ein Flugzeugfenster betrachtete und sagte, er würde es nie satt.
Zwei Stunden später landete ihr Flug in Rom. Der Himmel war strahlend blau, die Luft warm und würzig vom nahenden Sommer. Sie nahm ein Taxi zum Museum, ließ sich durch den chaotischen römischen Verkehr zur Galleria Nazionale chauffieren.
Dr. Ricci, ihr Kontakt im Museum, empfing sie mit italienischer Herzlichkeit. “Signora Berger! Wir haben von Ihrem Missgeschick gehört. Eine schreckliche Erfahrung! Aber Sie sind hier, gesund und munter, das ist alles, was zählt.”
“Danke”, sagte sie höflich. “Ich bin froh, endlich hier zu sein.”
“Das Gemälde wartet auf Sie. Wollen Sie es gleich sehen?”
Sie folgte ihm durch die Gänge des Museums, vorbei an Meisterwerken, die sie kaum wahrnahm. Ihr Geist war noch immer bei einem Flugzeug, das nach Mailand flog, bei einem Mann, dessen Leben sie nur für wenige kostbare Stunden berührt hatte.
Im Restaurierungslabor stand es dann vor ihr – das Gemälde, derentwegen sie nach Rom gekommen war. Eine Kreuzabnahme, dunkel und dramatisch, mit dem typischen Chiaroscuro der Caravaggio-Schule. Die Wasserschäden waren deutlich zu sehen, ein heller Fleck, der sich über die linke untere Ecke zog.
“Die Schäden sind oberflächlich”, erklärte Dr. Ricci. “Aber es braucht eine erfahrene Hand. Ihre Hand, Signora Berger.”
Sie trat näher, betrachtete die feinen Pinselstriche, die Spuren eines Künstlers, der vor Jahrhunderten gelebt hatte. Ihre Finger strichen sanft über den Rahmen, spürten das alte Holz, die Geschichten, die es in sich trug.
“Ich werde morgen beginnen”, sagte sie leise. “Heute muss ich mich noch einrichten.”
In ihrer gemieteten Wohnung, einem kleinen Apartment in Trastevere, packte sie methodisch ihre wenigen Habseligkeiten aus. Ihr Koffer war tatsächlich mit ihrem Flug angekommen, eine kleine Gnade in dieser verrückten Reise.
Sie trat auf den winzigen Balkon hinaus, blickte über die Dächer Roms. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, tauchte die Ewige Stadt in goldenes Licht. Irgendwo dort draußen war der Gianicolo-Hügel, von dem Finn gesprochen hatte. Der beste Aussichtspunkt, um den Sonnenuntergang zu beobachten.
Sie könnte hingehen. Allein. Nur um zu sehen, ob er Recht hatte.
Aber der Gedanke fühlte sich falsch an. Unvollständig.
Seufzend ging sie wieder hinein, ließ sich auf das Bett fallen. Auf dem Nachttisch lag die Zeitschrift, die sie am Flughafen gekauft hatte. Finns Gesicht starrte ihr entgegen, ernst und entschlossen. So anders als der Mann, der neben ihr eingeschlafen war, dessen Hand die ihre im Dunkeln gefunden hatte.
Ihre Finger strichen über das Foto, verweilten auf seinem Gesicht. Ein Fremder, der keiner mehr war. Ein Bekannter, der nie ein Freund werden würde.
Eine Woche, hatte er gesagt. Er würde eine Woche in Rom sein. Die Stadt war groß, aber nicht unendlich. Vielleicht würden sich ihre Wege kreuzen. Vielleicht…
Ihr Handy klingelte, unterbrach ihre Gedanken. Eine deutsche Nummer, die sie nicht kannte. Mit klopfendem Herzen nahm sie den Anruf an.
“Lena Berger?”
“Ja?”
“Hier ist Carola Weber von der Pressestelle des Deutschen Museums für Moderne Kunst.” Die Stimme klang geschäftsmäßig, efizient. “Entschuldigen Sie die späte Störung, aber wir haben eine dringende Anfrage. Es betrifft die bevorstehende Ausstellung ‘Dialog der Zeiten’, bei der historische Werke neben zeitgenössischer Fotografie präsentiert werden.”
Lena setzte sich aufrecht hin. “Ja, ich erinnere mich. Das Projekt wurde mir vorgestellt, bevor ich nach Rom abgereist bin.”
“Genau. Wir möchten Sie bitten, während Ihres Aufenthalts in Rom ein zusätzliches Gemälde zu begutachten. Es handelt sich um ein Werk von Artemisia Gentileschi, das möglicherweise in die Ausstellung aufgenommen werden soll. Der Fotograf, mit dem es gepaart werden soll, befindet sich zufällig ebenfalls in Rom und könnte das Gemälde mit Ihnen zusammen besichtigen.”
Lenas Herz schlug schneller. “Um welchen Fotografen handelt es sich?”
“Ein sehr renommierter Künstler. Sein Name ist Finn Neumann. Kennen Sie ihn vielleicht?”
Die Welt schien für einen Moment stillzustehen. Lena starrte aus dem Fenster, auf die goldenen Dächer Roms, die im Abendlicht leuchteten.
“Ja”, sagte sie leise, ein unwillkürliches Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. “Wir sind uns begegnet.”
Lena erwachte früh, noch bevor die Sonne über den Dächern Roms aufging. Ihr kleines Apartment in Trastevere lag in der Morgendämmerung wie in Samt gehüllt da. Sie blieb einen Moment regungslos liegen und lauschte den Geräuschen der erwachenden Stadt – ferne Motorroller, das metallische Klappern eines Rolladens, der hochgezogen wurde, das melodische Italienisch einer Frau, die vom Fenster gegenüber jemanden zu sich rief.
Ihr Blick fiel auf das Handy auf ihrem Nachttisch, und die Erinnerung an den gestrigen Anruf kehrte mit voller Wucht zurück. Finn. Hier in Rom. Eine berufliche Zusammenarbeit.
Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. Der Zufall – oder was immer es war – hatte eine fast komödiantische Qualität angenommen. Nachdem sie sich am Flughafen verabschiedet hatten, nachdem sie die Zeitschrift mit seinem Foto gefunden und erkannt hatte, wer er wirklich war… würden sie sich nun unter dem Dach eines gemeinsamen Projekts wiedersehen.
Das Treffen war für den späten Vormittag angesetzt, im Palazzo Barberini, wo das Gemälde von Artemisia Gentileschi aufbewahrt wurde. Genug Zeit also, um sich auf ihre eigentliche Arbeit in der Galleria Nazionale zu konzentrieren, genug Zeit, um sich zu sammeln.
Sie duschte, kleidete sich sorgfältig in eine schwarze Leinenhose und eine hellblaue Bluse, band ihr Haar zu einem lockeren Knoten. Professionalität war wichtig, sagte sie sich, während sie ihr Spiegelbild kritisch musterte. Dies war eine berufliche Begegnung. Nichts weiter.
Frühstück auf dem winzigen Balkon – ein Espresso und ein Cornetto, das sie gestern Abend noch von einer Pasticceria in der Nähe geholt hatte. Die Stadt breitete sich vor ihr aus, ein Wirrwarr aus Terrakotta-Dächern, Kirchtürmen und Fernsehmasten. Irgendwo da draußen begann auch Finn seinen Tag. Ob er nervös war? Oder war er so an überraschende Wendungen gewöhnt, dass ihn nichts mehr aus der Fassung brachte?
Um acht Uhr verließ sie ihre Wohnung. Die Galleria Nazionale wartete, und mit ihr das Caravaggio-Gemälde, das ihre volle Aufmerksamkeit verdiente. Die Begegnung mit Finn konnte warten. Musste warten.
Dr. Ricci begrüßte sie mit der typisch italienischen Herzlichkeit, die sie bereits gestern kennengelernt hatte. Er führte sie durch die noch besucherlosen Säle des Museums zu einem Seitenraum, der als Restaurierungswerkstatt eingerichtet worden war.
“Ihr Reich für die nächsten Wochen, Signora Berger”, sagte er mit einer einladenden Geste. “Alles, was Sie benötigen, sollte hier sein. Falls nicht, zögern Sie nicht zu fragen.”
Der Raum war perfekt – helles, aber indirektes Licht, eine breite Arbeitsplatte, auf der das beschädigte Gemälde bereits unter einer Schutzfolie lag, und alle Werkzeuge, die eine Restauratorin sich wünschen konnte.
“Grazie, Dr. Ricci.” Sie trat an den Tisch und schlug vorsichtig die Folie zurück. Wieder traf sie der Anblick des Gemäldes mit voller Wucht – die dramatische Inszenierung, die meisterhafte Lichtführung, der Schmerz und die Andacht in den Gesichtern der Figuren, die den Leichnam Christi vom Kreuz nahmen.
“Hat man den Künstler identifizieren können?”, fragte sie, während sie eine Lupe nahm und behutsam die beschädigte Stelle im linken unteren Bildbereich untersuchte.
“Wir vermuten Giovanni Baglione. Aber es gibt keine Signatur. Die Maltechnik deutet stark auf einen Caravaggio-Schüler hin, und Baglione war einer seiner bedeutendsten – wenn auch persönlich wohl sein größter Rivale.” Dr. Ricci schmunzelte. “Sie wissen sicher von dem Verleumdungsprozess.”
Lena nickte. Die Kunstgeschichte war voll von solchen Anekdoten – persönliche Fehden, die sich durch Jahrhunderte zogen, manifestiert in Pinselstrichen und Bildkompositionen.
“Lassen Sie mich allein”, bat sie. “Ich möchte mich mit dem Gemälde vertraut machen.”
Dr. Ricci verstand. Das erste Kennenlernen zwischen Restaurator und Kunstwerk war ein intimer Prozess, fast wie ein Gespräch zwischen zwei Seelen über die Jahrhunderte hinweg.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, legte Lena ihre Tasche beiseite, zog weiße Baumwollhandschuhe an und begann ihre methodische Untersuchung. Zentimeter für Zentimeter erkundete sie die Leinwand, machte sich Notizen, fotografierte Details mit ihrer Spezialkamera. Die Wasserschäden waren glücklicherweise oberflächlich, hatten aber eine komplexe Schichtung früherer, unsachgemäßer Restaurierungsversuche freigelegt.
Die Zeit verging im Flug. Als sie auf die Uhr blickte, war es bereits kurz vor elf. Das Treffen im Palazzo Barberini. Finn.
Mit einem letzten Blick auf das Gemälde deckte sie es wieder sorgfältig ab, packte ihre Notizen zusammen und zog die Handschuhe aus. Sie würde morgen wiederkommen, mit einem klareren Plan für die Restaurierung. Heute wartete eine andere Art von Herausforderung.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie die Stufen des Palazzo Barberini hinaufstieg. Das prachtvolle Barockgebäude beherbergte eine der wichtigsten Kunstsammlungen Roms, darunter Werke von Caravaggio, Raffael – und eben auch von Artemisia Gentileschi, der bedeutendsten Malerin des italienischen Barock.
In der kühlen Eingangshalle informierte sie die Rezeptionistin, dass sie für das Sonderprojekt mit dem Deutschen Museum hier sei. Die Frau telefonierte kurz, dann wies sie Lena den Weg zu einem Seitenflügel des Palazzos.
Mit jedem Schritt durch die hallenden Korridore wuchs ihre Anspannung. Wie würde es sein, Finn wiederzusehen? Nach der Intensität ihrer kurzen Begegnung, nach der gemeinsamen Nacht im Zürcher Hotel – wie begegnete man jemandem, mit dem man so viel und doch so wenig geteilt hatte?
Eine Tür stand offen. Sie hörte Stimmen – eine davon weiblich mit deutlichem italienischen Akzent, die andere männlich, tief, mit einer Färbung, die ihr bereits vertraut war. Lena holte tief Luft und trat ein.
Der Raum war ein kleines Studierzimmer, die Wände mit Bücherregalen gesäumt. Am Fenster stand eine elegante Frau in einem taillierten Kostüm, die lebhaft gestikulierte. Und neben ihr, die Hände in den Taschen seiner Cargohose, die Kamera noch immer um den Hals – Finn.
Er bemerkte sie zuerst. Seine Augen weiteten sich leicht, ein schnelles Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er sich wieder fing und professionelle Höflichkeit annahm.
“Frau Berger”, sagte er und trat auf sie zu, streckte ihr die Hand entgegen. “Welch unerwartetes Wiedersehen.”
Seine Hand war warm und fest, genau wie sie sie in Erinnerung hatte. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke – in seinen lag ein Funkeln, das Überraschung, Freude und etwas Fragendes zugleich auszudrücken schien.
“Herr Neumann”, erwiderte sie, bemüht um einen neutralen Tonfall. “Die Welt ist klein.”
“Sie kennen sich?”, fragte die Italienerin überrascht.
“Wir…” Finn zögerte. “Wir haben gemeinsam eine Notlandung in Zürich überlebt. Man könnte sagen, das verbindet.”
Die Frau lachte. “Ah, capisco! Flugzeugfreundschaften. Wie romantisch.” Sie trat vor und streckte Lena die Hand entgegen. “Dottoressa Valentina Conti, Kuratorin hier im Palazzo. Willkommen, Signora Berger. Das Deutsche Museum hat mir viel über Ihre Arbeit erzählt.”
“Freut mich sehr”, erwiderte Lena. “Ist das Gemälde hier?”
“Es ist im Restaurierungsatelier vorbereitet. Folgen Sie mir, per favore.”
Sie führte Lena und Finn durch einen schmalen Korridor in einen hellen Raum, der dem in der Galleria Nazionale ähnelte, nur größer und mit modernerer Ausstattung. In der Mitte, auf einer leicht schrägen Staffelei, stand ein mittelgroßes Gemälde, befreit von seinem Rahmen.
Lena blieb wie angewurzelt stehen. Das Werk war kraftvoll, von einer Intensität, die den Betrachter fast physisch traf. Es zeigte Judith, die biblische Heldin, unmittelbar nach ihrer mutigen Tat – dem Enthaupten des assyrischen Generals Holofernes. Judiths Gesicht war eine Studie in ruhiger Entschlossenheit, ihre Dienerin neben ihr wirkte angespannt, während sie den abgetrennten Kopf in einen Sack steckte. Das Licht-und-Schattenspiel, die gewagten Farbkontraste, die psychologische Tiefe – es war unverkennbar eine Artemisia.
“Magnifico, nicht wahr?”, sagte Dottoressa Conti leise. “Eines ihrer weniger bekannten Werke. Es wurde erst vor drei Jahren wiederentdeckt, in einer Privatsammlung in Neapel. Die Familie wusste nicht, was sie besaß.”
Lena trat näher, ihre professionelle Neugier verdrängte vorübergehend ihre Befangenheit wegen Finns Anwesenheit. “Der Zustand ist bemerkenswert gut für ein Werk aus dem frühen 17. Jahrhundert.”
“Es wurde nie restauriert. Hing jahrhundertelang in einem dunklen Salon, vergessen und dadurch bewahrt.”
Finn war ebenfalls näher getreten, betrachtete das Gemälde mit einem Auge, das gewohnt war, Bilder zu analysieren. “Die Kraft in ihrer Haltung”, murmelte er. “Nicht triumphierend, sondern… stoisch. Als wäre es eine notwendige Aufgabe gewesen, kein Racheakt.”
Lena blickte überrascht zu ihm auf. Seine Beobachtung war präzise, zeigte ein tiefes Verständnis für die Bildsprache.
“Genau”, nickte sie. “Artemisia kannte die Bibel gut. Judith handelte nicht aus persönlicher Rache, sondern um ihr Volk zu retten. Aber sie malte immer aus einer sehr persönlichen Perspektive. Nach ihrer eigenen traumatischen Erfahrung…”
“Dem Vergewaltigungsprozess gegen Agostino Tassi”, ergänzte Finn. “Ich habe mich ein wenig eingelesen, nach dem Anruf gestern.”
Dottoressa Conti sah zufrieden zwischen ihnen hin und her. “Eccellente. Sie verstehen beide die Tiefe des Werkes. Das ist genau, was wir für dieses Projekt brauchen – ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart.” Sie griff nach einer Mappe auf einem Seitentisch. “Herr Neumann hat einige seiner Fotografien mitgebracht, die für die Ausstellung in Betracht kommen.”
Finn öffnete die Mappe und entnahm mehrere großformatige Drucke. Er legte sie vorsichtig auf den Tisch neben dem Gemälde. Lena trat näher, um sie zu betrachten.
Die Bilder waren kraftvoll. Sie zeigten Frauen in verschiedenen Konfliktzonen – eine kurdische Kämpferin mit Gewehr, den Blick entschlossen in die Ferne gerichtet; eine junge Frau, die bei einer Demonstration in Beirut einen verletzten Mann stützte; eine ältere Frau, die vor den Trümmern ihres Hauses in der Ukraine stand, das Gesicht eine Studie in stoischem Schmerz.
“Frauen in Kriegsgebieten”, sagte Finn leise. “Nicht die üblichen Opferdarstellungen, sondern Momente von Stärke und Entschlossenheit. Als ich vom Artemisia-Projekt hörte, wusste ich sofort, welche Bilder passen würden.”
Lena ertappte sich dabei, wie sie ihn anstarrte – nicht den Pressefotografen, von dem sie in der Zeitschrift gelesen hatte, sondern den Mann, der diese Bilder mit einer Sensibilität und einem Verständnis geschaffen hatte, die sie nicht erwartet hätte.
“Sie sind wundervoll”, sagte sie aufrichtig. “Der Dialog mit Artemisias Werk… es ist, als würden die Frauen über Jahrhunderte hinweg miteinander sprechen.”
Etwas Weiches trat in Finns Gesicht, eine Verletzlichkeit, die sein übliches selbstsicheres Auftreten für einen Moment durchbrach. “Danke”, sagte er einfach.
Dottoressa Conti klatschte begeistert in die Hände. “Perfetto! Genau diese Verbindung wollen wir in der Ausstellung zeigen. Aber zuerst, Signora Berger, benötigen wir Ihre Expertise. Das Gemälde braucht keine umfassende Restaurierung, aber eine Begutachtung für den Transport und die Ausstellung in Deutschland. Können Sie einen detaillierten Zustandsbericht erstellen?”
Lena nickte, froh über die Rückkehr zu Fachlichem. “Natürlich. Ich werde einige Tage benötigen, um alle Tests durchzuführen.”
“Ausgezeichnet. Und Herr Neumann, wir benötigen Ihre endgültige Auswahl an Fotografien, sowie Ihre Gedanken zur Hängung und Präsentation.”
“Die Bilder stehen fest”, sagte Finn. “Für die Hängung würde ich gerne mit Frau Berger zusammenarbeiten. Ihre Perspektive als Restauratorin könnte hilfreich sein.”
Lena warf ihm einen schnellen Blick zu. War dies ein Vorwand, um mehr Zeit mit ihr zu verbringen? Oder eine echte berufliche Überlegung?
“Eine ausgezeichnete Idee”, strahlte die Kuratorin. “Ich werde Sie beide nun allein lassen, um sich mit dem Werk vertraut zu machen. Signora Berger, alle Utensilien für Ihre Untersuchung sollten hier sein. Falls Sie etwas benötigen, meine Assistentin ist im Büro nebenan.”
Mit einem Lächeln und einem Winken verschwand Dottoressa Conti aus dem Raum, ließ Lena und Finn in plötzlicher Stille zurück.
Sie standen voreinander, umgeben von Jahrhunderten Kunstgeschichte, und fanden sich in einem Moment wieder, der gleichzeitig vertraut und völlig neu war.
“Also”, sagte Finn schließlich, ein schiefes Lächeln im Gesicht. “Von allen Museen in allen Städten dieser Welt läufst du ausgerechnet in meins.”
Lena lachte unwillkürlich. “Casablanca? Wirklich?”
Er zuckte mit den Schultern, das Lächeln wurde breiter. “Es schien angebracht.”
Die Anspannung zwischen ihnen löste sich ein wenig. Lena trat wieder an das Gemälde heran, dankbar für die Ablenkung.
“Es ist wirklich ein außergewöhnliches Werk”, sagte sie. “Sieh dir die Detailgenauigkeit an – die Falten im Stoff, die Lichtreflexe auf dem Schmuck. Und die psychologische Tiefe in Judiths Blick…”
Finn trat neben sie, respektierte jedoch einen gewissen Abstand. “Es ist ähnlich wie bei einer guten Fotografie”, bemerkte er. “Der entscheidende Moment. Nicht die grausame Tat selbst, sondern der Augenblick danach – wenn das Adrenalin nachlässt und die Realität des Geschehenen einsetzt.”
Lena nickte. “Genau. Artemisia war Meisterin dieser psychologischen Momente. Besonders wenn es um Frauen ging, die außergewöhnliche Dinge taten.”
Sie arbeiteten eine Weile schweigend nebeneinander – Lena machte erste Notizen zum Zustand des Gemäldes, Finn arrangierte und betrachtete seine Fotografien in verschiedenen Konstellationen. Die Stille war nicht unangenehm, sondern getragen von einer seltsamen Vertrautheit, als hätten sie schon oft so zusammengearbeitet.
Schließlich legte Lena ihren Notizblock beiseite und drehte sich zu ihm um. “Die Pulitzer-Prämierung. Du hast sie nicht erwähnt.”
Finn blickte von seinen Fotografien auf, überrascht. “Woher weißt du das?”
“Eine Zeitschrift am Flughafen. Nachdem du weg warst.” Sie zögerte. “Warum hast du nichts gesagt?”
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, eine Geste, die sie bereits von ihm kannte. “Es schien nicht wichtig. Nicht in diesem Moment, in diesem Flugzeug.”
“Ein Pulitzer-Preis ist ziemlich wichtig.”
“Ist er das?” Er legte den Kopf leicht schief. “Es ist eine Auszeichnung für ein Foto, das ich gemacht habe. Es sagt nichts darüber aus, wer ich bin.”
Lena hielt seinen Blick, nicht ganz überzeugt. “Die meisten Menschen würden es erwähnen. Besonders wenn sie jemanden beeindrucken wollen.”
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. “Wollte ich dich beeindrucken?”
“Das sag du mir.”
Er betrachtete sie einen Moment lang, dann trat er näher an das Gemälde heran, als würde er eine neue Perspektive suchen.
“Vielleicht”, sagte er schließlich. “Aber nicht mit einem Preis. Nicht mit etwas, das in einer Biografie stehen könnte.” Er wandte sich wieder zu ihr. “Weißt du, in meinem Job sehe ich ständig Menschen, die sich hinter Fassaden verstecken – Politiker hinter wohlklingenden Reden, Generäle hinter Medaillen. Ich habe gelernt, das Echte zu schätzen. Den Moment, in dem die Maske fällt.”
“Und in einem abstürzenden Flugzeug fallen alle Masken”, ergänzte sie leise.
“Genau.” Er nickte. “Es gibt keinen besseren Lügendetektor als die Angst vor dem Tod.”
“War das ein Test? Um zu sehen, wer ich wirklich bin?”
Finn schüttelte den Kopf. “Nein. Es war einfach… ein seltener Moment der Wahrhaftigkeit. Ich wollte ihn nicht mit Lebensläufen und Erfolgen verfälschen.”
Lena betrachtete ihn nachdenklich. Seine Erklärung klang aufrichtig, und doch spürte sie, dass es mehr dahintersteckte – etwas, das er noch nicht auszusprechen bereit war.
“Wie lange bleibst du in Rom?”, fragte sie, das Thema wechselnd.
“Ursprünglich waren es sieben Tage. Für die Klimaproteste.” Ein schiefes Lächeln. “Jetzt, mit diesem Projekt, vielleicht länger. Es hängt davon ab, wie viel Zeit du für deine Untersuchung benötigst.”
“Ein paar Tage mindestens.”
“Dann bleibe ich ein paar Tage mindestens.”
Ihre Blicke trafen sich. In seinen Augen lag eine stille Frage, eine unausgesprochene Einladung.
“Das Angebot steht noch”, sagte er leise. “Der Sonnenuntergang auf dem Gianicolo.”
Lenas Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich. Der Gianicolo. Der Hügel, von dem er im Flugzeug gesprochen hatte, kurz bevor alles aus den Fugen geriet.
“Ich habe viel zu tun”, erwiderte sie ausweichend. “Zwei Projekte gleichzeitig, das Caravaggio-Gemälde in der Galleria und jetzt dies…”
“Natürlich.” Er nickte, das Gesicht plötzlich wieder professionell neutral. “War nur ein Gedanke.”
Sie bereute ihre Abweisung sofort, wusste aber nicht, wie sie zurückrudern sollte, ohne sich bloßzustellen. Stattdessen griff sie wieder nach ihrem Notizblock.
“Ich sollte mir die Rückseite des Gemäldes ansehen”, sagte sie geschäftsmäßig. “Dort finden sich oft die interessantesten Hinweise auf die Geschichte eines Werks.”
Finn nickte nur, trat respektvoll zurück. “Ich werde meine Auswahl für Dottoressa Conti finalisieren. Störe ich dich, wenn ich hier weiterarbeite?”
“Nein, überhaupt nicht.”
Sie arbeiteten wieder schweigend nebeneinander, jeder in seine Aufgabe vertieft, doch die Leichtigkeit von zuvor war einer spürbaren Spannung gewichen. Lena ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte sie sein Angebot nicht einfach angenommen? Was hielt sie zurück?
Die Antwort kannte sie natürlich: Angst. Nicht die akute, adrenalingetriebene Angst eines Flugzeugabsturzes, sondern die subtilere, hartnäckigere Angst vor Nähe, vor Verletzlichkeit. Die Angst, die sie dazu gebracht hatte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, auf das, was sie kontrollieren konnte – Pigmente, Leinwände, Restaurierungstechniken.
Als sie nach einer Stunde intensiver Untersuchung wieder aufblickte, war Finn verschwunden. Auf dem Tisch lag ein zusammengefaltetes Blatt Papier mit ihrem Namen darauf.
Sie öffnete es zögernd.
Musste zu einem Termin. Melde mich später wegen der Ausstellungsplanung. Falls du deine Meinung zum Sonnenuntergang änderst: 19 Uhr, Piazza Garibaldi, oben auf dem Gianicolo. Keine Verpflichtung, nur ein Angebot. – F.
Lena faltete den Zettel sorgfältig zusammen und steckte ihn in ihre Tasche. Sie blickte wieder zu Artemisias Gemälde auf, zu Judith, die mit ruhiger Entschlossenheit dastand, nachdem sie eine mutige Entscheidung getroffen hatte.
“Leicht für dich zu sagen”, murmelte Lena dem Gemälde zu. “Du wusstest, was auf dem Spiel stand.”
Der Rest des Tages verging in einem Wirbel aus Notizen, Analysen und Gesprächen mit Museumsangestellten. Um fünf Uhr nachmittags kehrte Lena in ihre kleine Wohnung zurück, erschöpft, aber zufrieden mit ihrer Arbeit an beiden Gemälden. Sie duschte, machte sich einen Tee und trat auf ihren winzigen Balkon.
Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu. In zwei Stunden würde sie untergehen, in einem spektakulären Schauspiel, das Rom in goldenes Licht tauchen würde. Und oben auf dem Gianicolo, am besten Aussichtspunkt der Stadt, würde Finn stehen und warten. Oder auch nicht.
Lena ging wieder hinein, stellte ihre Teetasse in die Spüle und betrachtete ihr Spiegelbild im kleinen Badezimmerspiegel. Ihre Haare waren noch feucht von der Dusche, ihr Gesicht ohne Make-up. Sie sah müde aus, aber auch irgendwie… erwartungsvoll? Als stünde sie an der Schwelle zu etwas Neuem.
Die Entscheidung kam plötzlich, fast ohne bewusstes Nachdenken. Sie föhnte ihr Haar, trug etwas Mascara und Lipgloss auf, wechselte ihre bequeme Hauskleidung gegen ein einfaches blaues Sommerkleid. Nichts Außergewöhnliches, nichts, das nach verzweifelter Bemühung aussah. Nur ein bisschen mehr als der professionelle Look, den sie tagsüber trug.
Um halb sieben verließ sie die Wohnung. Der Gianicolo war nicht weit von Trastevere, vielleicht zwanzig Minuten zu Fuß. Sie ging langsam, ließ sich Zeit, genoss die abendliche Atmosphäre der Stadt. Um sie herum erwachte das römische Nachtleben zum Leben – Cafés füllten sich, Straßenmusiker stimmten ihre Instrumente, Paare schlenderten Arm in Arm durch die engen Gassen.
Der Weg zum Hügel führte über schmale Straßen, dann einen steilen Anstieg hinauf. Lena spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, aber nicht nur von der körperlichen Anstrengung. Mit jedem Schritt wuchs ihre Nervosität. Was, wenn er nicht da war? Was, wenn er da war? Was erwartete sie sich von diesem Treffen?
Als sie die Piazza Garibaldi erreichte, war es kurz vor sieben. Der Platz war, wie zu erwarten, voller Touristen, die auf die untergehende Sonne warteten. Lena ließ ihren Blick über die Menge schweifen, suchte nach einer vertrauten Gestalt.
Und dann sah sie ihn. Er stand etwas abseits vom Hauptgewimmel, an einer Steinbalustrade, die Kamera locker in der Hand, den Blick über die Stadt gerichtet. Er trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, und seine übliche Cargohose. Sein Haar bewegte sich leicht im Abendwind.
Für einen Moment blieb Lena stehen und beobachtete ihn aus der Entfernung. Er wirkte ruhig, konzentriert, fast meditativ, während er den Lichteffekten der sinkenden Sonne auf den Kuppeln und Dächern Roms folgte. Ab und zu hob er die Kamera, machte ein Foto, senkte sie wieder. Gelegentlich blickte er auf seine Uhr oder ließ seinen Blick über den Platz schweifen, suchend.
Lena holte tief Luft und ging auf ihn zu. Als sie näher kam, bemerkte er sie. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus – nicht überrascht, aber erfreut. Als hätte er gehofft, aber nicht erwartet.
“Du bist gekommen”, sagte er einfach, als sie ihn erreichte.
“Ich war neugierig”, erwiderte sie. “Ob du Recht hast mit dem besten Sonnenuntergang Roms.”
Sein Lächeln vertiefte sich. “Ich habe selten Unrecht, was gute Aussichten angeht.”
Er trat einen Schritt zur Seite, machte ihr Platz an der Balustrade. Lena stellte sich neben ihn, spürte die Wärme seines Körpers neben ihrem, ohne dass sie sich berührten.
Unter ihnen breitete sich Rom aus wie ein lebendes Gemälde. Die untergehende Sonne tauchte alles in warmes, goldenes Licht. Die Kuppel des Petersdoms fing das Licht wie eine überirdische Laterne, während der Tiber wie geschmolzenes Gold durch die Stadt floss. Tausende Fenster reflektierten das Sonnenlicht, ließen die Gebäude flimmern und glitzern.
“Oh”, hauchte Lena unwillkürlich. “Das ist…”
“Ja”, sagte Finn leise. “Genau.”
Sie standen schweigend nebeneinander, beobachteten, wie die Sonne langsam am Horizont versank, wie die Schatten länger wurden, wie das Gold allmählich in tiefes Rot überging und dann in sanftes Violett.
“Hattest du Recht”, flüsterte Lena schließlich. “Es ist der beste Blick.”
“Das ist er”, sagte Finn, aber als sie zu ihm hinübersah, blickte er nicht mehr auf die Stadt, sondern auf sie. In seinen Augen lag eine Intensität, die ihr den Atem raubte. “Definitiv der beste Blick.”
Lena spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie wandte den Blick ab, zurück zur Stadt, die nun in der einsetzenden Dämmerung lag. Die ersten Lichter begannen zu leuchten, wie Sterne, die am Boden aufgingen.
“Danke, dass du gekommen bist”, sagte Finn nach einer Weile. “Ich war nicht sicher, ob du es tun würdest.”
“Ich auch nicht”, gab sie zu.
“Was hat dich überzeugt?”
Sie dachte einen Moment nach. “Artemisia, vielleicht. Die Frau, die mutig genug war, ihren eigenen Weg zu gehen, in einer Zeit, als Frauen das nicht durften.”
Finn nickte langsam. “Interessante Inspiration.” Er hob seine Kamera, machte ein Foto der Stadt in der Abenddämmerung. “Weißt du, was mich an Artemisias Judith am meisten beeindruckt? Die Gelassenheit. Der Mut, der nicht aus Impulsivität entsteht, sondern aus ruhiger Überlegung.”
“Im Gegensatz zu dir, meinst du?” Lena lächelte leicht. “Der impulsive Fotojournalist, der in Krisengebiete springt?”
“Vielleicht.” Er zuckte mit den Schultern. “Obwohl… es ist nicht immer Impulsivität. Manchmal ist es eine sehr bewusste Entscheidung, dorthin zu gehen, wo andere weglaufen.”
“Wie die Entscheidung, in einem abstürzenden Flugzeug die Hand einer Fremden zu halten?”
Ein sanftes Lächeln spielte um seine Lippen. “Das war keine Entscheidung. Das war… Instinkt.”
Ihre Blicke trafen sich, hielten einander fest. In diesem Moment, auf diesem Hügel über Rom, mit der Ewigen Stadt zu ihren Füßen, schien die Zeit stillzustehen.
“Hunger?”, fragte Finn plötzlich und brach den Zauber des Augenblicks.
Lena blinzelte, überrascht von dem Themenwechsel. “Ja, eigentlich schon.”
“Ich kenne ein kleines Restaurant, nicht weit von hier. Nichts Touristisches, echtes römisches Essen. Wenn du möchtest…”
Es war eine einfache Einladung, und doch so viel mehr als das. Eine Entscheidung, den Abend zu verlängern, die gemeinsame Zeit nicht enden zu lassen.
“Gerne”, sagte Lena.
Sie verließen den Aussichtspunkt, während um sie herum die Touristen ihre letzten Fotos machten und langsam abzogen. Der Weg führte sie einen schmalen Pfad hinunter, zurück nach Trastevere. Finn ging neben ihr, respektierte ihren persönlichen Raum, aber nah genug, dass sie gelegentlich seinen Arm streifte.
“Wie lange machst du das schon?”, fragte Lena, als sie eine steilere Passage hinuntergingen. “Die Fotografie in… schwierigen Gebieten.”
“Fünfzehn Jahre. Angefangen habe ich mit lokalen Nachrichten in Hamburg, dann internationale Themen. Irgendwann landete ich in meinem ersten Konfliktgebiet – fast zufällig. Ein Auftrag über Flüchtlinge in der Türkei führte mich an die syrische Grenze. Dort machte ich Bilder, die plötzlich überall waren.” Er lächelte schief. “Der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.”
“Ist es nicht… erschreckend? Gefährlich?”
Er schwieg einen Moment. “Ja, beides. Aber auch wichtig. Jemand muss diese Geschichten erzählen.”
Sie nickten verständnisvoll. “Wie meine Restaurierung. Es fühlt sich wichtig an, diese Werke zu bewahren, ihre Geschichten zu schützen.”
“Genau.” Finn lächelte. “Wir sind beide im Geschäft des Bewahrens. Du bewahrst die Vergangenheit, ich die Gegenwart.”
Das Restaurant war genau, wie er es beschrieben hatte – klein, unscheinbar, fast versteckt in einer Seitengasse. Drinnen nur wenige Tische, die meisten besetzt mit Einheimischen. Ein gutes Zeichen. Sie bekamen einen Tisch am Fenster, mit Blick auf die nun in Dunkelheit gehüllte Gasse, in der nur gelegentlich Passanten vorbeischlenderten.
Sie bestellten auf Finns Empfehlung hin – Carciofi alla Romana als Vorspeise, dann Bucatini all’Amatriciana für Lena und Saltimbocca alla Romana für Finn. Dazu eine Flasche Montepulciano.
Als der Wein kam, stießen sie an – nicht auf Rom diesmal, sondern stillschweigend auf diesen Moment, diese unerwartete Wendung ihrer Geschichte.
“Erzähl mir von Berlin”, sagte Finn, während sie auf ihr Essen warteten. “Was treibt eine talentierte Restauratorin, wenn sie nicht gerade in Italien arbeitet?”
Lena nahm einen Schluck Wein, überlegte. “Mein Leben in Berlin ist… ruhig. Strukturiert. Ich arbeite für ein kleines Privatmuseum, restauriere hauptsächlich deutsche und niederländische Malerei. Zwischendurch unterrichte ich an der Kunsthochschule.”
“Familie?”
“Meine Eltern leben in München. Wir sehen uns ein paarmal im Jahr. Ansonsten…” Sie zuckte mit den Schultern. “Wenige enge Freunde. Viel Arbeit.”
“Keine Katze? Kein Kanarienvogel?” Er grinste.
Sie lachte. “Nicht einmal eine Zimmerpflanze. Ich bin zu oft unterwegs.”
“Eine Gemeinsamkeit.”
Die Vorspeise kam – zarte Artischockenherzen in Olivenöl und Knoblauch, perfekt zubereitet. Sie aßen schweigend, genossen das einfache, aber exquisite Gericht.
“Und du?”, fragte Lena schließlich. “Hamburg, sagtest du?”
“Nominell. Ich habe dort eine Wohnung, die ich vielleicht vierzig Tage im Jahr sehe.” Er schnitt ein Stück Artischocke ab. “Der Rest ist… überall und nirgends. Hotelzimmer, Flughäfen, Krisengebiete.”
“Klingt einsam.”
Er blickte auf, seine Augen trafen ihre. “Ist es manchmal. Aber man gewöhnt sich daran. Irgendwann wird die Einsamkeit zur Gewohnheit, fast zum Komfort.” Er hielt inne. “Bis etwas passiert, das einen daran erinnert, was man vermisst.”
“Wie eine Notlandung mit einer Fremden?”
“Zum Beispiel.” Er lächelte, ein ehrliches, offenes Lächeln, das seine Augen erreichte.
Der Hauptgang kam, und sie wechselten zu leichteren Themen – Lieblingsorte in Rom, Kunstausstellungen, die sie gesehen hatten, Bücher, die sie beide gelesen hatten. Die Unterhaltung floss mühelos, unterbrochen von gemütlichem Schweigen, in dem sie ihr Essen genossen.
Als sie ihre Teller leerten und die Weinflasche sich dem Ende neigte, lehnte sich Finn zurück und betrachtete sie mit einem nachdenklichen Blick.
“Darf ich dich etwas fragen, Lena? Etwas Persönliches?”
Sie zögerte kurz, nickte dann. “Natürlich.”
“Was ist deine Geschichte? Ich meine, was hat dich zur Restauratorin gemacht? Es scheint mir nicht der naheliegendste Berufswunsch für ein Kind zu sein.”
Lena drehte ihr Weinglas zwischen den Fingern, betrachtete das tiefe Rot der letzten Schlucke.
“Mein Großvater”, sagte sie schließlich leise. “Er war kein Restaurator, sondern Kunstschreiner. Aber er hat mir beigebracht, wie man Dinge repariert, wie man sie pflegt, wie man ihren Wert erkennt. Er hatte eine alte Standuhr – nichts Besonderes, aber für ihn wertvoll. Als Kind durfte ich ihm helfen, sie zu pflegen, das Holz zu polieren, das Uhrwerk zu ölen.”
Sie hielt inne, lächelte bei der Erinnerung. “Als ich zehn war, ist die Uhr stehengeblieben. Mein Großvater war krank, konnte sie nicht reparieren. Also habe ich es versucht – heimlich, mit seinen Werkzeugen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tat, aber ich wollte sie für ihn zum Laufen bringen.”
“Und? Hast du es geschafft?”
“Nein.” Sie lachte leise. “Ich habe sie nur noch schlimmer beschädigt. Aber anstatt wütend zu sein, hat mein Großvater mir gezeigt, wie man es richtig macht. Wir haben wochenlang daran gearbeitet, jedes kleine Teil gereinigt, poliert, geölt. Und als sie wieder lief…” Sie schüttelte den Kopf. “Dieses Gefühl – etwas Wertvolles gerettet zu haben, etwas, das sonst verloren gegangen wäre… Ich glaube, da begann es.”
Finn betrachtete sie mit einem warmen Blick. “Das erklärt einiges.”
“Was meinst du?”
“Deine Geduld. Deine Sorgfalt. Die Art, wie du Dinge betrachtest – als hätten sie eine Seele, eine Geschichte, die es wert ist, bewahrt zu werden.”
Lena spürte, wie ihr wieder die Röte ins Gesicht stieg. So gesehen zu werden, so verstanden zu werden von jemandem, der sie kaum kannte…
“Und bei dir?”, fragte sie, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. “Wie wird man Fotojournalist in Krisengebieten?”
Etwas verdunkelte sich in Finns Gesicht, nur für einen Moment, dann kehrte sein entspannter Ausdruck zurück.
“Eine Frage für ein anderes Abendessen, vielleicht”, sagte er leichthin. “Es ist keine Geschichte für gutes Essen und guten Wein.”
Lena nickte, respektierte seinen Wunsch, nicht darüber zu sprechen. Jeder hatte seine Grenzen, seine privaten Räume.
“In Ordnung”, sagte sie einfach. “Ein anderes Mal.”
Sie beendeten ihr Mahl mit Espresso und einem geteilten Tiramisu. Finn bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen – “Du bist mein Gast in Rom” – und Lena ließ es geschehen, versprach sich selbst, beim nächsten Mal zu zahlen.
Beim nächsten Mal. Die Worte hallten in ihrem Kopf nach, als sie das Restaurant verließen und in die kühle Nachtluft hinaustraten. Es würde ein nächstes Mal geben, dessen war sie sich nun sicher.
Sie schlenderten durch die nächtlichen Gassen von Trastevere, die nun voller Leben waren – Musik drang aus den Bars, Gelächter aus den Restaurants, überall Menschen, die die laue Frühlingsnacht genossen.
“Wo wohnst du?”, fragte Finn. “Ich bringe dich nach Hause.”
“Nicht weit von hier.” Sie deutete in eine Richtung. “Vielleicht zehn Minuten zu Fuß.”
Sie gingen nebeneinander her, ihre Hände streiften sich gelegentlich, aber keiner machte den Versuch, die Hand des anderen zu ergreifen. Es war eine angenehme Spannung zwischen ihnen, ein unausgesprochenes Versprechen von mehr, aber ohne Druck, ohne Eile.
An einer Straßenecke blieb Lena stehen. “Hier ist es”, sagte sie und deutete auf ein altes Mietshaus mit verwitterter Fassade und grünen Fensterläden.
Finn nickte, blickte das Gebäude hinauf. “Schön. Passt zu dir.”
Sie standen voreinander im schwachen Licht einer Straßenlaterne, umgeben vom leisen Rauschen der nächtlichen Stadt. Der Moment des Abschieds war gekommen, und doch zögerten beide.
“Danke für den Abend”, sagte Lena schließlich.
“Danke, dass du gekommen bist.” Er lächelte, ein sanftes, fast verlegenes Lächeln. “Ich bin froh, dass wir uns wiedergefunden haben. Nach Zürich, meine ich.”
“Ich auch.”
Ein weiterer Moment des Zögerns. Dann, fast gleichzeitig, bewegten sie sich aufeinander zu. Finns Hand strich sanft über ihre Wange, während sie ihre Hand auf seine Brust legte, den festen Herzschlag unter ihren Fingerspitzen spürte.
Ihr Kuss war zart, fragend, ein vorsichtiges Erkunden. Dann, als die anfängliche Überraschung verflogen war, vertiefte er sich, wurde fester, sicherer. Lena spürte, wie ein Schauer durch ihren Körper lief, wie sich etwas in ihr löste, das lange verschlossen gewesen war.
Als sie sich voneinander lösten, blieben sie nah, Stirn an Stirn, Atem vermischte sich.
“Ich sollte gehen”, flüsterte Finn. “Wir haben beide morgen zu arbeiten.”
“Ja”, sagte Lena, obwohl ein Teil von ihr protestieren wollte, ihn bitten wollte zu bleiben.
Er trat einen Schritt zurück, seine Augen nie von ihren weichend. “Wann sehen wir uns wieder? Für das Projekt, meine ich.”
“Morgen im Palazzo? Um drei?”
“Perfekt.” Er lächelte. “Und danach vielleicht… Abendessen?”
“Gerne.”
Er beugte sich vor, küsste sie noch einmal, kurz und süß. “Gute Nacht, Lena Berger.”
“Gute Nacht, Finn Neumann.”
Sie beobachtete, wie er die Straße hinunterging, sich einmal umdrehte und die Hand hob, bevor er um eine Ecke verschwand. Erst dann ging sie die Stufen zu ihrer Wohnungstür hinauf, ein Lächeln auf den Lippen, das sie nicht unterdrücken konnte.
In ihrer Wohnung ließ sie sich aufs Bett fallen, berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen, als könnte sie seinen Kuss noch spüren. Es war wie ein Traum – der unerwartete Flug, die Notlandung, die gemeinsame Nacht in Zürich, die überraschende Wiederbegegnung in Rom, und nun dies.
Sie griff nach ihrem Handy, um den Wecker zu stellen, und bemerkte eine Nachricht von Dr. Ricci aus dem Museum. Sie öffnete sie, erwartete eine Frage zur Restaurierung des Caravaggio-Gemäldes.
Stattdessen las sie:
Signora Berger, entschuldigen Sie die späte Störung. Eine dringende Angelegenheit ist aufgetaucht. Wir haben heute Nachmittag eine Mitteilung aus dem Vatikan erhalten. Es scheint, dass Ihr Caravaggio-Gemälde möglicherweise gestohlen wurde – vor langer Zeit, während des Zweiten Weltkriegs. Ein Anspruch auf Rückgabe wurde gestellt. Bitte kommen Sie morgen früh so bald wie möglich ins Museum. Diskrete Behandlung ist geboten.
Lena starrte auf die Nachricht, der Glanz des Abends plötzlich verblasst. Ein gestohlenes Gemälde. Ein Rückgabeanspruch. Und mittendrin: sie.
Als sie das Handy beiseite legte und aus dem Fenster in die Nacht blickte, wusste sie, dass ihr römisches Abenteuer eine Wendung genommen hatte, die weit über einen romantischen Sonnenuntergang und einen ersten Kuss hinausging. Und sie war sich nicht sicher, ob sie bereit war für das, was kommen würde.