Kurzgeschichte ,,Zehn Minuten"

Inhaltsverzeichnis
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    Kapitel 1 Der Anruf

    Die späte Oktobersonne fiel durch die großen Fenster in Maries Wohnung und malte warme Rechtecke auf den Dielenboden. Es war einer dieser seltenen Tage in Berlin, an denen der Herbst sein hässliches Gesicht versteckte und stattdessen mit goldenen Farben und klarer Luft aufwartete. Marie Schäfer saß im Schneidersitz auf ihrer Couch, den Laptop auf den Knien und eine Tasse Kaffee in Reichweite auf dem niedrigen Couchtisch. Sie hatte sich den Tag freigenommen – eine Seltenheit in ihrem hektischen Leben als Art Direktorin.

    “Besser wird es nicht”, murmelte sie und klickte auf “Speichern”. Die Präsentation für den Kosmetikhersteller war endlich fertig, drei Tage vor der eigentlichen Deadline. Marie streckte sich und gönnte sich einen Moment der Zufriedenheit. Vielleicht war es nicht der aufregendste Freitag, aber nach Wochen ohne einen freien Tag fühlte sich dieser selbstgewährte Urlaubstag wie purer Luxus an.

    Sie klappte den Laptop zu und stand auf. Die Wohnung in Prenzlauer Berg war ihr Zufluchtsort, ihre Festung der Stille inmitten der lärmenden Stadt. Nach der Trennung von Markus vor einem Jahr hatte sie die gemeinsame Wohnung in Kreuzberg verlassen und war hierher gezogen – ein Neuanfang, der sich immer noch etwas provisorisch anfühlte, obwohl inzwischen fast alle Kartons ausgepackt waren.

    Marie ging in die Küche, spülte ihre Kaffeetasse aus und schaute auf die Uhr. Kurz nach eins. Der restliche Tag gehörte ihr. Sie könnte ins Kino gehen, oder einfach durch die Straßen schlendern, vielleicht in eines der Cafés einkehren und Menschen beobachten…

    Das Klingeln ihres Handys unterbrach ihre Gedanken. Die Nummer auf dem Display war unterdrückt. Marie zögerte. Normalerweise nahm sie solche Anrufe nicht entgegen – zu oft waren es Werbeanrufe oder irgendwelche Umfragen. Doch heute, in ihrer entspannten Stimmung, drückte sie auf “Annehmen”.

    “Hallo?”

    Stille am anderen Ende der Leitung. Dann ein seltsames Klicken, wie von einem mechanischen Zeitmesser.

    “Hallo? Wer ist da?” fragte Marie erneut, diesmal mit einer Spur Ungeduld in der Stimme.

    “Zehn Minuten”, sagte eine Stimme. Sie klang verzerrt, künstlich tief, offensichtlich durch einen Stimmveränderer gefiltert. “Sie haben zehn Minuten, um Ihre Wohnung zu verlassen. Wenn Sie dann noch dort sind, werden Sie sterben.”

    Marie schnaubte und schüttelte den Kopf. “Ist das Ihr Ernst? Wer ist da?”

    “Neun Minuten und fünfzig Sekunden”, antwortete die Stimme monoton. “Neun Minuten und neunundvierzig Sekunden…”

    “Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind oder was das soll, aber—”

    “Neun Minuten und fünfundvierzig Sekunden. Ticktack, Marie.”

    Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Der Anrufer kannte ihren Namen.

    “Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?” Ihre Stimme klang jetzt schärfer, der Anflug von Belustigung war verschwunden.

    “Neun Minuten und vierzig Sekunden.”

    Die Verbindung wurde unterbrochen.

    Marie starrte auf ihr Handy. Ein Scherz, dachte sie sofort. Ein dummer, geschmackloser Scherz. Wahrscheinlich einer ihrer Kollegen aus der Agentur. Thomas vielleicht, der technische Direktor, der einen seltsamen Sinn für Humor hatte. Oder vielleicht Claudia, die neue Grafikerin, die immer versuchte, sich mit albernen Streichen zu profilieren.

    Marie legte das Handy auf die Küchenablage und atmete tief durch. Es gab keinen Grund zur Besorgnis. Dennoch spürte sie, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, wie ein leichtes Unbehagen in ihren Magen kroch.

    Lächerlich, dachte sie. Lass dich nicht einschüchtern.

    Marie ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder auf die Couch. Sie nahm ihr Tablet vom Tisch und entsperrte es, um sich von dem seltsamen Anruf abzulenken. Die Startseite ihrer Lieblingszeitung lud, Schlagzeilen über Politik und Promidramen flimmerten über den Bildschirm, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem Anruf zurück.

    Acht Minuten und zwanzig Sekunden, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.

    Marie warf einen Blick auf die Wohnungstür. Sie war zweifach verriegelt, wie immer. Die Fenster waren geschlossen. Sie lebte im vierten Stock, ohne Balkon. Niemand konnte einfach so hereinkommen.

    Und doch…

    Der Anrufer wusste ihren Namen.

    Sieben Minuten und fünfzig Sekunden.

    Marie stand auf und ging zum Fenster. Unten auf der Straße pulsierte das normale Leben des Viertels. Eine Mutter schob einen Kinderwagen vor sich her, zwei Geschäftsmänner unterhielten sich gestikulierend an der Ecke, ein Fahrradkurier huschte vorbei. Alles normal. Niemand starrte zu ihr hinauf. Kein verdächtiges Fahrzeug parkte gegenüber.

    Sie ging zurück zur Couch und griff nach ihrem Handy, um Lukas anzurufen, einen Kollegen, mit dem sie sich gut verstand. Er würde wissen, ob jemand in der Agentur hinter diesem Streich steckte.

    Das Handy klingelte, aber niemand nahm ab. Nach dem fünften Klingeln sprang die Mailbox an. Marie legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Was hätte sie auch sagen sollen? Hey, ich habe gerade einen merkwürdigen Anruf bekommen, und jetzt habe ich Angst? Lächerlich.

    Sechs Minuten und dreißig Sekunden.

    “Hör auf damit”, sagte Marie laut in den leeren Raum. Sie ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte sie nur auf so einen offensichtlichen Streich hereinfallen? Sie war 34 Jahre alt, keine leicht zu erschreckende Teenagerin.

    Ein leises Piepen ließ sie aufhorchen.

    Der Rauchmelder.

    Marie blickte zur Decke, wo das kleine weiße Gerät angebracht war. Es piepte erneut, kurz und leise, kaum hörbar. Nicht der durchdringende Alarm, der ertönte, wenn tatsächlich Rauch erkannt wurde, sondern das Warnsignal einer schwachen Batterie.

    Komischer Zufall, dachte Marie und versuchte, das ungute Gefühl zu ignorieren, das in ihr aufstieg. Der Rauchmelder war erst vor drei Monaten installiert worden, als sie eingezogen war. Die Batterie sollte noch lange halten.

    Sie holte einen Stuhl aus der Küche und stellte ihn unter den Rauchmelder. Als sie hinaufstieg und das Gerät näher betrachtete, stutzte sie. Das Gehäuse sah anders aus als sie es in Erinnerung hatte. Etwas schmaler, mit einer kleinen roten LED, die sie vorher nie bemerkt hatte.

    Mit zitternden Fingern öffnete sie die Abdeckung des Rauchmelders. Im Inneren befand sich nicht nur die übliche Elektronik, sondern auch ein kleines schwarzes Kästchen, das dort definitiv nicht hingehörte. Es war mit einem dünnen Klebeband befestigt, und ein winziges rotes Lämpchen blinkte im Sekundentakt.

    Marie stieg hastig vom Stuhl und wich zurück, als hätte sie sich verbrannt. Das war kein normaler Rauchmelder mehr. Jemand hatte ihn manipuliert. Jemand war in ihrer Wohnung gewesen.

    Fünf Minuten.

    Panik stieg in ihr auf, ein beißendes Gefühl, das ihre Kehle zuschnürte. Marie stürzte ins Schlafzimmer und riss die Schubladen ihres Nachttisches auf. Hatte jemand auch hier etwas verändert? Sie durchsuchte hastig den Kleiderschrank, warf einen Blick unter das Bett. Nichts Ungewöhnliches.

    Zurück im Wohnzimmer blieb sie stehen und versuchte, logisch zu denken. Wenn jemand den Rauchmelder manipuliert hatte, was bedeutete das? War es wirklich möglich, dass die Drohung echt war? Aber warum? Wer würde ihr schaden wollen?

    Der Countdown in ihrem Kopf tickte unerbittlich weiter. Vier Minuten und zwanzig Sekunden.

    Marie griff nach ihrem Handy und wählte den Notruf. Als sie das Telefon ans Ohr hob, zögerte sie. Was würde sie sagen? Dass ein unbekannter Anrufer ihr gedroht hatte und sie einen seltsamen Gegenstand in ihrem Rauchmelder gefunden hatte? Würde die Polizei das ernst nehmen? Würden sie rechtzeitig kommen?

    Vier Minuten.

    Sie legte auf, bevor jemand antworten konnte. Es blieb keine Zeit für Erklärungen. Wenn die Drohung real war, musste sie die Wohnung sofort verlassen.

    Marie steckte ihr Handy in die Tasche, schnappte sich ihren Geldbeutel und die Schlüssel vom Sideboard und lief zur Tür. Ihre Hand lag bereits auf dem Türgriff, als sie innehielt.

    Was, wenn genau das das Ziel war? Sie aus der Wohnung zu locken? Vielleicht wartete draußen jemand auf sie?

    Drei Minuten und vierzig Sekunden.

    Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Nein, es war offensichtlich gefährlicher, in der Wohnung zu bleiben. Sie musste raus, und zwar schnell.

    Marie öffnete die Tür und trat auf den Flur. Die Stille des Treppenhauses umfing sie, nur das leise Summen der Neonröhre an der Decke war zu hören. Sie schloss die Tür hinter sich und horchte. Kein ungewöhnliches Geräusch, keine Schritte, kein Flüstern.

    Langsam bewegte sie sich zur Treppe. Ihr Instinkt riet ihr, den Aufzug zu meiden – zu langsam, zu riskant, falls wirklich jemand auf sie wartete. Sie begann, die Stufen hinunterzugehen, immer zwei auf einmal nehmend, ihre Schritte hallten im Treppenhaus wider.

    Drei Minuten.

    Im dritten Stock blieb sie stehen. Sollte sie bei einem der Nachbarn klingeln? Frau Becker in 3B war immer freundlich zu ihr gewesen. Aber Marie zögerte – was, wenn sie den Nachbarn in Gefahr brachte? Wenn die Bedrohung real war, würde sie niemanden mit hineinziehen wollen.

    Sie setzte ihren Weg nach unten fort, jetzt etwas langsamer, alle Sinne geschärft. Als sie den zweiten Stock erreichte, hörte sie, wie über ihr eine Tür geöffnet wurde. Marie erstarrte und blickte nach oben. Eine junge Frau mit einem Kinderwagen erschien am Treppenabsatz des dritten Stocks. Die Nachbarin aus 3A, die Marie nur vom Sehen kannte.

    Die Anwesenheit einer anderen Person – noch dazu mit einem Kleinkind – brachte Marie zurück in die Realität. Was tat sie hier eigentlich? Floh vor einem anonymen Anruf und einem manipulierten Rauchmelder? Es klang so absurd, so paranoid.

    Zwei Minuten und dreißig Sekunden.

    Marie zwang sich weiterzugehen. Lieber paranoid als tot, falls die Drohung doch echt war. Im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet, und ein älterer Mann trat auf den Flur. Herr Kleinschmidt, der Rentner, der im Erdgeschoss wohnte und jeden Morgen um sechs Uhr seinen Dackel ausführte. Er nickte ihr freundlich zu.

    “Guten Tag, Frau Schäfer”, grüßte er mit seiner rauchigen Stimme.

    “Guten Tag”, antwortete Marie automatisch und ging weiter, bemüht, nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie auf der Flucht war.

    Als sie das Erdgeschoss erreichte, zögerte sie erneut. Die Glastür zum Innenhof lag direkt vor ihr, aber sie führte in einen geschlossenen Bereich, der nur einen Ausgang hatte. Wenn jemand auf sie wartete, wäre sie dort gefangen. Der Haupteingang vorne war belebter, führte direkt auf die Straße.

    Zwei Minuten.

    Marie entschied sich für den Haupteingang. Mit schnellen Schritten ging sie durch den Flur zur Eingangstür, öffnete sie und trat hinaus in die Herbstsonne. Die frische Luft traf sie wie ein Schlag, und plötzlich fühlte sie sich töricht. Da war die normale Welt, die Straße, die Menschen, die an ihr vorbeigingen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Wie hatte sie sich nur so von einer Drohung einschüchtern lassen können?

    Sie blieb auf dem Bürgersteig stehen, unschlüssig, was sie als Nächstes tun sollte. Zurückgehen? Nein, das erschien immer noch zu riskant. In ein Café gehen und dort abwarten? Das klang vernünftig.

    Marie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Eine Minute und dreißig Sekunden.

    Sie begann, die Straße hinunterzugehen, in Richtung des kleinen italienischen Cafés an der Ecke. Ihre Gedanken rasten. Wer könnte hinter all dem stecken? Sie hatte keine Feinde, keine erbitterten Ex-Liebhaber, keine beruflichen Rivalen, die zu solchen Extremen greifen würden. Das Einzige, was sie in letzter Zeit getan hatte, war die Arbeit an der neuen Kosmetikkampagne für einen großen Kunden. Aber das war nichts, was jemanden zu einer Morddrohung veranlassen würde.

    Eine Minute.

    Marie ging schneller, fast rennend jetzt. Das Café kam in Sicht, ein einladender Ort mit kleinen Tischen auf dem Bürgersteig und warmem Licht hinter den Fenstern. Sie würde dort hineingehen, einen Kaffee bestellen und die Polizei rufen. In der Öffentlichkeit wäre sie sicher.

    Dreißig Sekunden.

    Als sie die Tür des Cafés erreichte, drehte sie sich noch einmal um und blickte zurück zu ihrem Wohnhaus. Von außen wirkte alles normal, friedlich sogar. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern des vierten Stocks, wo ihre Wohnung lag.

    Zehn Sekunden.

    Marie öffnete die Tür des Cafés, der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee und Gebäck schlug ihr entgegen. Sie trat ein, wählte einen Tisch am Fenster und setzte sich, die Augen immer noch auf das Wohnhaus gerichtet.

    Fünf Sekunden.

    Sie holte ihr Handy heraus, bereit, endlich die Polizei zu rufen.

    Drei… zwei… eins…

    Die Explosion war ohrenbetäubend. Marie sah, wie die Fenster ihrer Wohnung in einem grellen Lichtblitz zerbarsten, Glassplitter und Trümmer regneten auf die Straße hinunter. Eine Feuersäule schoss aus den Fenstern, gefolgt von einer dichten schwarzen Rauchwolke. Menschen schrien, liefen weg oder blieben wie erstarrt stehen. Autoalarmanlagen heulten auf.

    Marie saß wie versteinert. Ihre Wohnung. Ihre Sachen. Ihr Leben. Alles explodiert, in Flammen aufgegangen. Und sie wäre mittendrin gewesen, wäre da nicht der Anruf gewesen. Der Anruf, der ihr Leben gerettet hatte.

    Aber warum hatte jemand sie gewarnt? Wer wollte sie töten und gleichzeitig retten?

    Ein zweites Handy in ihrer Tasche vibrierte – ein altes Modell, das sie als Backup benutzte und fast vergessen hatte. Mit zitternden Händen zog sie es heraus. Eine neue Nachricht von einer unbekannten Nummer:

    “Gut gemacht, Marie. Das war nur der erste Test. Wir sehen uns bald wieder.”

    Sirenen heulten in der Ferne, während Marie auf die Nachricht starrte, ihr Gesicht bleich im Widerschein der Flammen, die aus ihrer Wohnung schlugen. Zehn Minuten hatten gereicht, um ihr Leben für immer zu verändern.

    Kapitel 2 :Das Schließfach

     

    Der Kaffee in Maries Tasse war längst kalt geworden. Sie saß seit fast zwei Stunden im Café, die Hände um das Porzellan geklammert, während ihr Leben draußen in Trümmern lag. Die Feuerwehr hatte den Brand in ihrer Wohnung inzwischen unter Kontrolle gebracht, aber vom vierten Stock stieg immer noch dünner Rauch auf. Polizisten hatten einen Bereich vor dem Gebäude abgesperrt, und Schaulustige standen in kleinen Grüppchen herum, filmten mit ihren Smartphones und tuschtelten miteinander.

    Marie starrte auf das Display ihres zweiten Handys. Die Nachricht brannte sich in ihr Gedächtnis ein: “Gut gemacht, Marie. Das war nur der erste Test. Wir sehen uns bald wieder.” Sie hatte das Gerät den herbeigeeilten Polizeibeamten nicht gezeigt. Etwas in ihr sagte, dass sie es für sich behalten sollte – zumindest vorerst.

    “Frau Schäfer?” Eine Frau mittleren Alters in Zivilkleidung mit kurzen, praktischen Haaren setzte sich ihr gegenüber. “Kriminalhauptkommissarin Weber. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.”

    Marie nickte benommen.

    “Können Sie mir erklären, warum Sie zum Zeitpunkt der Explosion nicht in Ihrer Wohnung waren?”

    Marie zögerte kurz, bevor sie von dem anonymen Anruf erzählte. Von der verzerrten Stimme, dem Countdown, dem manipulierten Rauchmelder. Die Kommissarin machte sich Notizen, ihr Gesicht zeigte keine Regung.

    “Haben Sie eine Vorstellung, wer Ihnen das antun könnte?” fragte Weber, nachdem Marie geendet hatte.

    “Nein. Ich… ich habe keine Feinde.” Marie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. “Ich verstehe das alles nicht.”

    “Gibt es irgendjemanden, der einen Grund hätte, Ihnen zu schaden? Ein ehemaliger Partner vielleicht?”

    Marie dachte an Markus. Ihre Trennung war nicht besonders freundschaftlich verlaufen, aber das lag ein Jahr zurück. Und Markus war kein gewalttätiger Mensch, nie gewesen.

    “Nein”, sagte sie fest. “Niemand.”

    Weber betrachtete sie prüfend. “Die Tatsache, dass Sie gewarnt wurden, ist sehr ungewöhnlich. In den meisten Fällen wollen Täter ihre Opfer verletzen, nicht retten.”

    “Was bedeutet das?”

    “Das bedeutet, dass hier mehr dahintersteckt als ein einfacher Mordversuch. Jemand spielt ein Spiel mit Ihnen. Und wir müssen herausfinden, welches.”

    Marie erschauderte.

    “Haben Sie andere ungewöhnliche Vorfälle in letzter Zeit bemerkt? Drohungen? Einbruchsspuren? Unbekannte Personen, die Sie beobachtet haben könnten?”

    Marie schüttelte den Kopf, doch dann hielt sie inne. “Da war etwas. Letzte Woche. Ich hatte das Gefühl, verfolgt zu werden, als ich von der Arbeit nach Hause ging. Aber ich habe niemanden gesehen, und… ich dachte, ich bilde mir das nur ein.”

    Weber nickte langsam. “Haben Sie einen Ort, wo Sie heute Nacht bleiben können? Bei Freunden oder Familie?”

    Marie dachte nach. Ihre Eltern lebten in München, zu weit weg. Ihre wenigen engen Freunde in Berlin… “Ja, ich kann bei einer Freundin unterkommen.”

    “Gut. Wir werden Ihre Aussage aufnehmen und dann jemanden abstellen, der Sie begleitet. Für alle Fälle.”


    Es war fast 22 Uhr, als Marie in Sarahs Wohnung in Friedrichshain ankam. Sarah, eine Freundin aus der Agentur, hatte nicht gezögert, ihr Gästezimmer anzubieten, nachdem sie von dem Vorfall gehört hatte.

    “Mein Gott, Marie, das ist ja furchtbar!” Sarah umarmte sie fest, als sie die Tür öffnete. “Komm rein. Hast du Hunger? Ich kann uns etwas kochen.”

    Marie schüttelte den Kopf. “Danke, aber ich bin zu erschöpft zum Essen.”

    Sarah führte sie ins Gästezimmer, ein kleiner Raum mit einem Bett, einem Schreibtisch und einem Kleiderschrank. “Es ist nicht viel, aber…”

    “Es ist perfekt, Sarah. Danke.”

    “Brauchst du etwas? Kleidung? Toilettenartikel?”

    Marie hatte auf dem Weg ein paar Notwendigkeiten gekauft – Zahnbürste, T-Shirt, Unterwäsche. Die Polizei hatte ihr etwas Geld vorgestreckt, damit sie das Nötigste besorgen konnte. “Ich habe alles, was ich brauche.”

    Sarah sah sie besorgt an. “Was sagt die Polizei? Haben sie eine Ahnung, wer das getan hat?”

    “Noch nicht. Sie vermuten einen gezielten Anschlag, keinen Unfall oder eine falsch verlegte Gasleitung.” Marie setzte sich aufs Bett und spürte, wie die Erschöpfung des Tages über sie hereinbrach.

    “Wenn ich irgendetwas tun kann…”

    “Danke, Sarah. Ich bin einfach nur froh, dass ich nicht allein sein muss.”

    Nachdem Sarah gegangen war, legte Marie sich in das fremde Bett und starrte an die Decke. Ihr Kopf schwirrte von Fragen ohne Antworten. Wer würde so etwas tun? Und warum sie warnen? ‘Das war nur der erste Test’, hatte die Nachricht gelautet. Was bedeutete das? Würde es weitere ‘Tests’ geben?

    Irgendwann übermannte sie der Schlaf, ein unruhiger Schlaf voller Alpträume von tickenden Uhren und Explosionen.


    Marie erwachte mit einem Ruck, als ihr Handy vibrierte. Es war 6:12 Uhr, noch dunkel draußen. Eine neue Nachricht von der unbekannten Nummer:

    “Guten Morgen, Marie. Bereit für Test Nummer zwei? Frühstücke nicht bei deiner Freundin. Geh zum Café Einstein am Hackeschen Markt. 8 Uhr. Allein. Kein Wort zur Polizei.”

    Marie starrte auf die Nachricht, ihr Herz raste. Sie sollte zur Polizei gehen, das war klar. Kommissarin Weber hatte ihr ihre Karte gegeben, mit der ausdrücklichen Anweisung, bei jedem verdächtigen Vorfall sofort anzurufen.

    Und doch… Was, wenn der Absender sie beobachtete? Was, wenn er wusste, ob sie die Polizei kontaktierte? Die Person hinter den Nachrichten hatte bereits bewiesen, dass sie zu allem fähig war.

    Marie setzte sich auf und legte das Handy beiseite. Sie musste nachdenken, einen klaren Kopf bewahren. Sie stand auf, schlüpfte in die gestern gekauften Klamotten und ging leise ins Badezimmer. Als sie in den Spiegel blickte, sah sie eine Fremde – blass, mit dunklen Ringen unter den Augen und einem gehetzten Blick.

    Was würde passieren, wenn sie nicht zum Café Einstein ginge? Würde ihr Verfolger eine weitere “Strafe” für sie bereithalten? Und was würde geschehen, wenn sie hinging?

    Nach einer kurzen Dusche schlich sie sich in die Küche. Sarah schlief noch. Marie hinterließ einen Zettel: “Bin kurz weg, brauche etwas frische Luft. Komme später wieder. Danke für alles. M.”

    Es war eine Lüge, aber sie wollte Sarah nicht in Gefahr bringen.

    Draußen war es kalt, der Oktoberhimmel grau und verhangen. Marie zog den dünnen Mantel enger um sich, den sie gestern in einem Discounter gekauft hatte. Sie nahm die U-Bahn zum Hackeschen Markt, die Gedanken rasten in ihrem Kopf. Während der Fahrt beobachtete sie die anderen Passagiere genau. War einer von ihnen ihr Verfolger? Der Mann mit der Zeitung? Die Frau mit den vielen Einkaufstaschen? Der Student mit dem Laptop?

    Als sie das Café Einstein erreichte, war es 7:53 Uhr. Sie blieb draußen stehen und starrte durch die Fenster. Das Café war nur spärlich besetzt – ein paar Frühaufsteher, die Kaffee tranken und Zeitungen lasen. Nichts Verdächtiges.

    Marie holte tief Luft und trat ein. Sie wählte einen Tisch in der Ecke, von wo aus sie den Eingang im Blick hatte, und bestellte einen Kaffee bei der freundlichen Kellnerin.

    8:00 Uhr. Nichts geschah.

    8:05 Uhr. Marie trank ihren Kaffee und beobachtete jeden, der das Café betrat.

    8:15 Uhr. Ihr Handy vibrierte. Eine neue Nachricht:

    “Schau unter deinen Tisch.”

    Marie erstarrte. Langsam, mit zitternden Händen, beugte sie sich vor und blickte unter die Tischplatte. Dort war etwas festgeklebt – ein kleiner brauner Umschlag.

    Sie löste ihn vorsichtig ab und öffnete ihn unter dem Tisch. Darin befand sich ein USB-Stick und ein Zettel mit den Worten: “Die Wahrheit über Projekt Chimäre. Sieh es dir alleine an.”

    Marie starrte auf den Stick. Projekt Chimäre? Sie hatte noch nie davon gehört.

    Eine weitere Nachricht erschien auf ihrem Handy: “Du hast 24 Stunden, um den Inhalt zu prüfen. Danach reden wir.”

    Marie steckte den Umschlag in ihre Tasche. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Wie hatte jemand diesen Umschlag unter ihren Tisch kleben können? War es der Kellner? War es schon vorher dort gewesen, und der Tisch gezielt für sie ausgewählt worden?

    Als sie aufsah, bemerkte sie einen Mann zwei Tische weiter, der sie beobachtete. Er trug eine schwarze Jacke und eine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Als sich ihre Blicke trafen, stand er auf und ging schnell zur Tür hinaus.

    Marie reagierte instinktiv. Sie warf Geld auf den Tisch und folgte ihm.

    Draußen blickte sie sich hastig um. Der Mann ging schnellen Schrittes die Straße hinunter. Marie nahm die Verfolgung auf, hielt aber einen sicheren Abstand. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust.

    Der Mann bog in eine Seitenstraße ein. Marie beschleunigte ihre Schritte, um ihn nicht zu verlieren. Als sie um die Ecke bog, sah sie ihn am Ende der schmalen Gasse stehen, als würde er auf sie warten.

    Marie zögerte. Sollte sie weitergehen? Umkehren?

    Der Mann nahm langsam seine Mütze ab. Das Gesicht, das zum Vorschein kam, ließ Marie erstarren.

    “Markus?”

    Ihr Ex-Freund stand da, seine Miene ernst und angespannt. “Marie, du musst mir zuhören. Du bist in großer Gefahr.”

    “Du?” Marie trat einen Schritt zurück. “Bist du derjenige, der…?”

    “Nein.” Markus schüttelte heftig den Kopf. “Ich habe dich gewarnt. Der Anruf vor der Explosion – das war ich. Ich wollte dich retten.”

    “Du?” Marie konnte es nicht fassen. “Warum sollte ich dir glauben? Du hast meine Wohnung in die Luft gejagt!”

    “Ich habe dich gewarnt!”, wiederholte Markus eindringlich. “Ich habe die Bombe nicht platziert. Ich habe nur davon erfahren und versucht, dich zu retten.”

    “Woher wusstest du davon? Wer steckt dahinter?”

    Markus blickte nervös über seine Schulter. “Nicht hier. Wir werden beobachtet.” Er griff in seine Tasche und holte einen Schlüssel hervor. “Hier, nimm das. Es ist der Schlüssel zu einem Schließfach im Hauptbahnhof. Nummer 247. Darin findest du alles, was du wissen musst.”

    Marie nahm den Schlüssel zögernd entgegen. “Markus, ich verstehe nicht…”

    “Es geht um Projekt Chimäre. Du wirst es verstehen, wenn du den USB-Stick ansiehst.” Er trat näher, seine Stimme jetzt ein eindringliches Flüstern. “Traue niemandem, Marie. Besonders nicht der Polizei. Es geht tiefer, als du dir vorstellen kannst.”

    Plötzlich erstarrte Markus, seine Augen weiteten sich. Marie folgte seinem Blick und sah ein schwarzes Auto, das langsam in die Gasse einbog.

    “Sie haben mich gefunden”, flüsterte Markus. “Lauf, Marie. LAUF!”

    Er stieß sie weg, drehte sich um und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Das Auto beschleunigte.

    Marie stand wie gelähmt da, der Schlüssel fest in ihrer Hand. Als das Auto an ihr vorbeifuhr, sah sie kurz das Gesicht des Fahrers – ausdruckslos, mit dunkler Sonnenbrille.

    Am Ende der Gasse stoppte das Auto neben Markus. Zwei Männer sprangen heraus und packten ihn. Marie sah, wie er sich wehrte, wie sie ihn zu Boden drückten.

    Dann ertönte ein einzelner, gedämpfter Schuss.

    Marie presste sich die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Die Männer schleppten Markus’ reglosen Körper ins Auto. Einer von ihnen drehte sich um und blickte direkt in ihre Richtung.

    Maries Instinkte übernahmen. Sie drehte sich um und rannte, rannte um ihr Leben, den Schlüssel zum Schließfach fest umklammert, während hinter ihr der Motor des schwarzen Wagens aufheulte.

    kapitel 3: Flucht am Alexanderplatz

    Marie lief, bis ihre Lungen brannten. Ihre Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider, während sie durch enge Gassen und belebte Straßen hastete, immer wieder über die Schulter blickend. Das Bild von Markus’ leblosem Körper verfolgte sie, ebenso wie die Gesichter der Männer, die ihn in das schwarze Auto gezerrt hatten.

    Erst als sie sicher war, dass niemand ihr folgte, verlangsamte sie ihre Schritte. Sie befand sich in einem belebten Teil des Alexanderplatzes, umgeben von Pendlern auf dem Weg zur Arbeit. Marie fand eine Bank und ließ sich erschöpft darauf sinken. Mit zitternden Händen zog sie den Schlüssel aus ihrer Tasche und betrachtete ihn. Ein gewöhnlicher Schließfachschlüssel mit der eingravierten Nummer 247.

    Was hatte Markus gesagt? “Traue niemandem, Marie. Besonders nicht der Polizei.” Warum sollte sie der Polizei nicht vertrauen? Das ergab keinen Sinn. Andererseits – Markus hatte sein Leben riskiert, um sie zu warnen. Zweimal.

    Ihr Handy klingelte. Sarah. Marie nahm ab.

    “Marie? Wo bist du? Ich habe deinen Zettel gefunden und mir Sorgen gemacht.”

    “Es geht mir gut, Sarah,” log Marie. “Ich brauchte nur etwas frische Luft.”

    “Die Polizei ist hier. Kommissarin Weber. Sie will dringend mit dir sprechen.”

    Maries Herz setzte einen Schlag aus. “Sag ihr, dass… dass ich bald zurückkomme. Ich muss nur etwas erledigen.”

    “Marie, was ist los? Du klingst seltsam. Bist du in Ordnung?”

    “Ja, alles in Ordnung.” Marie versuchte, normal zu klingen. “Ich melde mich später. Versprochen.”

    Sie beendete das Gespräch und schaltete ihr Handy aus. Wenn die Polizei sie über die Funkzelle orten wollte, würden sie es jetzt schwerer haben. Der Gedanke ließ sie innehalten. War sie jetzt auf der Flucht? Vor der Polizei? Vor den Männern im schwarzen Auto? Vor beiden?

    Marie stand auf und ging zielstrebig in Richtung Hauptbahnhof. Sie brauchte Antworten, und der erste Schritt waren die Inhalte des Schließfachs.


    Der Hauptbahnhof war ein Gewirr aus Gleisen, Geschäften und eilenden Menschen. Marie fand die Schließfächer im Untergeschoss. Die Reihe mit der Nummer 247 befand sich in einer ruhigeren Ecke. Sie blickte sich um, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, und steckte den Schlüssel ins Schloss.

    Darin befanden sich ein kleiner schwarzer Rucksack und ein verschlossener Umschlag mit ihrem Namen. Marie nahm beides heraus, schloss das Fach wieder und suchte sich eine abgelegene Sitzecke in einem Café im oberen Stockwerk des Bahnhofs.

    Zuerst öffnete sie den Umschlag. Er enthielt einen handgeschriebenen Brief von Markus.

    Marie,

    Wenn du das hier liest, bin ich wahrscheinlich tot oder verschwunden. Es tut mir leid, dass ich dich in all das hineingezogen habe. Ich wollte dich beschützen, aber jetzt ist es zu spät für uns beide.

    Was ich dir jetzt erzähle, wird unglaublich klingen, aber es ist die Wahrheit. In den letzten sechs Monaten habe ich für ein Unternehmen namens NeuraTech gearbeitet. Offiziell entwickeln sie medizinische Software für Krankenhäuser. Inoffiziell arbeiten sie an etwas, das sie “Projekt Chimäre” nennen – ein hochentwickeltes Überwachungssystem, das Zugriff auf jedes vernetzte Gerät haben soll. Smartphones, Smartwatches, vernetzte Haushaltsgeräte, Autos, Sicherheitskameras – alles.

    Ich war als IT-Sicherheitsspezialist angeheuert worden, um die Infrastruktur zu testen. Was ich fand, war erschreckend. Das System kann nicht nur Geräte manipulieren, sondern auch gezielte Fehlfunktionen verursachen. Gaslecks provozieren. Bremsen in Autos versagen lassen. In Rauchmelder eindringen. All das aus der Ferne, ohne Spuren zu hinterlassen.

    Als ich meinen Vorgesetzten konfrontierte, wurde mir klar, dass die Technologie bereits in einer Testphase ist. An echten Menschen. An “Testsubjekten”, wie sie sie nennen. Ich habe die Liste gesehen, Marie. Und dein Name stand darauf.

    Ich weiß nicht, warum sie dich ausgewählt haben. Vielleicht Zufall. Aber dann hörte ich, dass ein “terminaler Test” für gestern angesetzt war. Ich konnte es nicht verhindern, nur dich warnen.

    Im Rucksack findest du Geld, eine PrePaid-Kreditkarte, ein sauberes Handy und Beweise zu Projekt Chimäre – genug, um NeuraTech zu Fall zu bringen. Der USB-Stick, den du bereits hast, enthält weitere Datensätze.

    Es gibt Menschen in der Firma, die wissen, was ich getan habe. Sie werden dich jagen, Marie. Sie werden alles tun, um die Beweise zu vernichten. Geh nicht zur Polizei – NeuraTech hat Verbindungen bis in höchste Regierungskreise.

    Es gibt nur eine Person, der du vertrauen kannst: Dr. Elisa Weiss, meine ehemalige Professorin. Sie lebt zurückgezogen in einem Dorf bei Potsdam. Die Adresse findest du im Rucksack.

    Es tut mir leid, Marie. Für alles.

    Markus

    Marie las den Brief zweimal, während ihr Herz immer schneller schlug. Das klang verrückt, paranoid. Und doch – ihre Wohnung war explodiert. Markus war erschossen worden. Jemand verfolgte sie.

    Sie öffnete den Rucksack. Wie versprochen enthielt er mehrere Bündel Bargeld, eine Kreditkarte, ein einfaches Smartphone, Kleidung, eine Sonnenbrille, eine Baseballkappe und einen Aktenordner voller Ausdrucke – E-Mails, technische Diagramme, Listen mit Namen. Ganz oben auf der Liste: Marie Schäfer.

    Daneben stand eine Bewertung: “Hohe digitale Präsenz, minimale familiäre Bindungen vor Ort, etablierte berufliche Routine. Ideales Testsubjekt für Phase 3.”

    Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie blätterte weiter durch die Dokumente. Technische Zeichnungen von Geräten, die sie nicht verstand. Berichte über “erfolgreiche Tests”. Fotos von Menschen, die sie nicht kannte.

    Am Ende des Ordners stieß sie auf ein Foto, das sie innehalten ließ. Es zeigte ein Labor, darin mehrere Männer in weißen Kitteln und eine junge Frau an einem Schreibtisch. Marie erkannte sie sofort.

    Sarah. Ihre Freundin Sarah, in deren Wohnung sie übernachtet hatte. Sarah, die sie noch nie im Zusammenhang mit einem Labor oder Forschung erwähnt hatte. Sarah, die für eine Marketing-Agentur arbeitete – angeblich.

    Sarah, die jetzt bei der Polizei war und nach ihr suchte.

    Mit einem Mal wurde ihr alles klar. Sie war direkt in die Arme einer NeuraTech-Mitarbeiterin gelaufen. Sie hatten sie die ganze Zeit beobachtet.

    Marie packte eilig alles wieder in den Rucksack. Sie musste weg aus Berlin, so schnell wie möglich. Sie würde zu dieser Dr. Weiss fahren, der einzigen Person, der Markus vertraut hatte.

    Als sie das Café verließ, sah sie auf einem der großen Monitore im Bahnhof die Nachrichten. Ein Bild von ihr erschien auf dem Bildschirm. Darunter die Schlagzeile: “POLIZEI BERLIN SUCHT DIESE FRAU – VERDÄCHTIG DES MORDES AN MARKUS WINTER”.

    Marie erstarrte. Sie hatten sie zum Verdächtigen gemacht. Jetzt würde ganz Berlin nach ihr suchen.

    Sie zog die Baseballkappe tief ins Gesicht und eilte zu den Gleisen. Der nächste Zug nach Potsdam würde in zehn Minuten abfahren. Marie stellte sich in die Schlange am Ticketautomaten, bemüht, ruhig zu wirken.

    Als sie an der Reihe war, tippte jemand ihr auf die Schulter. Marie wirbelte herum, bereit zu fliehen.

    “Marie?” Ein Mann Mitte vierzig stand vor ihr, mit Brille und graumeliertem Haar. “Keine Angst. Ich bin ein Freund von Markus. Wir müssen sofort weg hier. Die Polizei ist im Anmarsch.”

    “Woher soll ich wissen, dass Sie nicht von NeuraTech sind?” fragte Marie mit zitternder Stimme.

    Der Mann senkte die Stimme. “Projekt Chimäre. Markus hat mich geschickt, falls ihm etwas zustoßen sollte. Ich bin Ihre Versicherung, Marie. Ihr Schutz.”

    “Ich weiß nicht—”

    “Dort drüben.” Der Mann nickte diskret in Richtung des Haupteingangs. “Zwei Polizisten, die gerade hereinkommen. Und der Mann im grauen Anzug neben ihnen? NeuraTech-Sicherheit. Sie haben das Bahnhofsgelände abgeriegelt. Es gibt nur einen Weg raus.”

    Marie folgte seinem Blick. Tatsächlich kamen zwei Uniformierte durch den Eingang, begleitet von einem Mann im Anzug, dessen Haltung und wachsamer Blick ihn als Sicherheitspersonal identifizierten.

    “Sie haben vielleicht zwei Minuten, bevor sie Sie finden,” flüsterte der Mann. “Ich kann Ihnen helfen. Aber Sie müssen jetzt entscheiden.”

    Marie blickte zwischen dem Mann und den sich nähernden Polizisten hin und her. Konnte sie ihm vertrauen? Hatte sie eine Wahl?

    “In Ordnung,” sagte sie schließlich. “Bringen Sie mich hier raus.”

    Der Mann nickte und führte sie schnellen Schrittes zu einem Seitenausgang. “Mein Name ist übrigens Tobias Stern. Ich war mit Markus an der Universität. Wir haben für den Verfassungsschutz gearbeitet, bevor… nun, bevor alles kompliziert wurde.”

    Sie verließen den Bahnhof durch einen Diensteingang und traten auf einen fast leeren Parkplatz. Ein unscheinbarer grauer Kombi stand in einer Ecke.

    “Da drüben,” sagte Stern und deutete auf das Auto. “Steigen Sie ein. Wir fahren nicht nach Potsdam – das ist das Erste, wo sie suchen werden.”

    “Wohin dann?”

    “Zu einem sicheren Ort. Von dort aus kontaktieren wir Dr. Weiss.”

    Marie zögerte, die Hand bereits auf der Autotür. “Woher kennen Sie Dr. Weiss?”

    Stern hielt inne. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. “Markus muss Ihnen von ihr erzählt haben.” Er griff in seine Tasche und zog eine Pistole hervor. “Leider haben Sie damit gerade einen schweren Fehler gemacht.”

    Marie wich zurück, als die Erkenntnis sie traf. “Sie arbeiten für NeuraTech.”

    “Steigen Sie ein, Frau Schäfer. Langsam und ohne Aufsehen zu erregen. Das muss nicht hässlich werden.”

    “Sie haben Markus getötet.”

    Stern seufzte. “Das ist bedauerlich gelaufen. Aber er hat uns keine Wahl gelassen. Sie hingegen sind zu wertvoll, um Sie zu verlieren. Das Projekt braucht Sie.”

    “Als Versuchskaninchen?”

    “Als Pionierin. Sie haben keine Vorstellung, worum es wirklich geht.” Seine Stimme wurde eindringlicher. “Das Auto. Jetzt.”

    Marie sah sich um. Der Parkplatz war fast leer, keine Zeugen in Sicht. Die Pistole war auf ihre Brust gerichtet.

    In diesem Moment hörte sie das Quietschen von Reifen. Ein schwarzer Van raste um die Ecke des Gebäudes, kam mit einer Vollbremsung direkt neben ihnen zum Stehen. Die Seitentür wurde aufgerissen.

    “REIN DA!” schrie eine Frauenstimme aus dem Inneren.

    Stern wirbelte herum, die Waffe jetzt auf den Van gerichtet. Ein Schuss krachte, und Stern taumelte zurück, eine Hand an seine Schulter gepresst.

    “MARIE, BEWEG DICH!” Die Stimme kam Marie bekannt vor.

    Sie zögerte nicht länger, stürzte zum Van und sprang hinein. Die Tür schloss sich hinter ihr, und der Wagen beschleunigte mit quietschenden Reifen.

    Keuchend drehte sich Marie zu ihrer Retterin um und erstarrte.

    “Dr. Weiss?” Sie erkannte die Frau aus Markus’ Beschreibung – Ende fünfzig, kurzes graues Haar, scharfe Gesichtszüge.

    Die Frau nickte grimmig. “Wir haben nicht viel Zeit. Der Anruf von Markus kam vor einer Stunde. Er sagte, Sie würden zum Hauptbahnhof kommen.”

    “Markus? Aber er ist tot. Ich habe gesehen, wie sie ihn erschossen haben.”

    Dr. Weiss warf ihr einen seltsamen Blick zu. “Sind Sie sicher?”

    “Ich… ja. Ein Schuss, er fiel zu Boden…”

    “Das Blut? Haben Sie Blut gesehen?”

    Marie versuchte, sich zu erinnern. Der Moment war so schnell vorbeigegangen, so chaotisch. “Nein, ich… ich glaube nicht.”

    “Marie,” Dr. Weiss lehnte sich vor, ihre Augen intensiv und durchdringend. “Nichts ist, wie es scheint. Besonders nicht bei Projekt Chimäre. Hinter dem, was Sie gesehen haben, was Sie erlebt haben – steckt etwas viel Größeres.”

    “Was meinen Sie damit?”

    Dr. Weiss wechselte einen Blick mit dem Fahrer, einem jungen Mann mit kurz geschorenem Haar und konzentriertem Gesichtsausdruck. Er nickte kaum merklich.

    “Es gibt Dinge, die Sie wissen müssen,” sagte Dr. Weiss langsam. “Über NeuraTech. Über Markus. Über sich selbst.” Sie holte tief Luft. “Und über das, was in Ihrem Kopf ist, seit Sie vor drei Monaten diese neue Stelle als Art Direktorin angenommen haben.”

    Marie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. “Was… was meinen Sie?”

    Dr. Weiss öffnete einen Laptop, der zwischen ihnen auf dem Sitz lag. “Der USB-Stick. Haben Sie ihn noch?”

    Mit zitternden Händen zog Marie den Stick aus ihrer Tasche und reichte ihn Dr. Weiss. Die ältere Frau steckte ihn in den Computer. Nach einem Moment des Ladens erschien ein Bild auf dem Bildschirm.

    Ein MRT-Scan eines Gehirns. Daneben ein winziges, spinnenartiges Gerät, nicht größer als ein Reiskorn.

    “Was ist das?” fragte Marie, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.

    “Ein Neural-Interface der dritten Generation. Die neueste Entwicklung von NeuraTech.” Dr. Weiss tippte auf das spinnenartige Gerät auf dem Bildschirm. “Und das hier, Marie, ist seit drei Monaten in Ihrem Gehirn.”

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